Frankfurter Rundschau
19. August 2006


Der neue Feind der Libanesen

von Otfried Nassauer

Die Waffen schweigen in Libanon. Aber zivile Opfer gibt es auch in der Feuerpause. Denn die israelische Armee hat offenkundig Waffen eingesetzt, durch die hochexplosive Streumunition zurückblieb.

Die Waffenruhe im Libanon war gerade erst in Kraft getreten, als sich bereits zehntausende Flüchtlinge auf den Heimweg machten. Doch auf die Heimkehrer wartet im Süden ein anonymer und tückischer Feind: UXO. "Unexploded Ordnance" - nicht explodierte Munition. Oft handelt es sich um so genannte Sub- oder Streumunitionen oder auch "Tochtergeschosse", kleine Sprengkörper, die zu Hunderten oder Tausenden mit Artilleriegranaten, Raketen und Streubomben gegen Flächenziele eingesetzt wurden. Auf Jahre gefährden sie Zivilisten und vor allem Kinder.

Diese Submunitionen eignen sich gut, um Katjuschas und Raketen auf ihren Werfern zu bekämpfen, "weiche Ziele", deren Position oft nur ungefähr bekannt ist. Katjuschas waren die Hauptwaffen der Hisbollah in diesem Krieg. Zu Tausenden wurden sie gegen Ziele in Nordisrael eingesetzt.

Wenige Stunden nach Beginn der Waffenruhe wurden bereits erste Opfer gemeldet. Ein totes Kind in Habbouche, 15 Verletzte in Kfar Roumane und Nabatiyeh - alle Opfer von Blindgängern. Die libanesische Regierung, die UN, etliche Hilfsorganisationen und selbst die israelische Armee warnten. Flüchtlinge sollten erst in ihre Häuser oder deren Ruinen zurückkehren, wenn die libanesische Armee dort nach nicht explodierter, scharfer Munition gesucht habe.

Israels Streitkräfte verfügen über eine Vielzahl von Bomben und Geschossen für den Einsatz von Streumunitionen. Die Luftwaffe besitzt ATAP-Bomben, die oft bündelweise abgeworfen werden und je 320, 512 oder 900 kleine Sprengsätze beinhalten. Ein Sprengsatz hat einen Durchmesser von nur 4,2 Zentimetern und ist gerade mal 5,5 Zentimeter lang. Die "Bomblets" wiegen weniger als 300 Gramm und können von Kindern leicht zur Explosion gebracht werden. Ihre Sprengkraft reicht, um mehr als 10 Zentimeter Panzerung zu durchschlagen, aber auch, um 1200 Schrapnellsplitter in alle Himmelsrichtungen zu verschießen. Opfer haben kaum eine Chance.

Auch mit Hubschraubern und Artilleriewerden Bomblets zum Einsatz gebracht. Die israelische Armee verfügt zudem über den Raketenwerfer MLRS, den auch die Bundeswehr nutzt. Der verschießt mit einer Salve bis zu 12 Raketen und verteilt dabei fast 8000 Submunitionen über Hunderttausende Quadratmeter. Selbst Mörsergeschosse werden von israelischen Firmen mit Submunitionen befüllt. Werbematerial für eines der modernsten Bombletgeschosse nennt den Grund, warum sie bei Militärs so beliebt sind: "Je nach Art des Zieles" seien "Granaten mit Submunitionen fünf bis acht Mal so kosteneffizient" wie normale Artilleriegeschosse des gleichen Kalibers.

So "kosteneffektiv" Bomblets aus militärischer Sicht auch sein mögen, so haben sie doch einen entscheidenden Makel: Der Prozentsatz der Submunitionen, die beim Aufprall auf die Erde nicht explodieren, ist hoch. Die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die schon während des Krieges Israel wegen der Verwendung solcher Geschosse kritisierte, spricht von einer Fehlerquote von 14 Prozent. Manchmal ist sie noch höher. Bei Versuchen mit der Submunition der MLRS-Raketen funktionierten in Einzelfällen bis zu 40 Prozent nicht korrekt. Als Israel während des Krieges von den USA weitere MLRS-Raketen mit Submunitionen haben wollte, protestierten selbst Washingtoner Parlamentarier. Friedens- und Menschenrechtsgruppen sowie Entwicklunghilfeorganisationen wollen schon lange ein Verbot dieser Waffen. Sie halten deren Einsatz für völkerrechtswidrig, weil die Waffen unterschiedslos gegen Soldaten und Zivilisten wirken - ein Verstoß gegen die Genfer Konvention.

Doch ein explizites und effizientes Verbot des Einsatzes von Streumunition gibt es noch nicht. Bislang haben nur einige wenige Staaten ein neues Zusatzprotokoll unterzeichnet, das denjenigen, der solche Waffen einsetzt, wenigstens verpflichtet, die getroffenen Gebiete zu markieren. So konnten Israels Streitkräfte die Vorwürfe von Human Rights Watch während des Krieges noch kontern: Es seien keine verbotenen Waffen zum Einsatz gekommen.

Doch der Druck wächst. "Mit Belgien hat ein erstes Land beschlossen, ganz auf solche Waffen zu verzichten", berichtet Thomas Gebauer von Medico International. Auch auf die Bundesregierung wachse der Druck, auf solche Munitionen völlig zu verzichten.

Die Munitionshersteller reagieren auf die wachsende öffentliche Kritik - auch in Israel. Neuere Submunitionen haben einen Selbsterzerstörungsmechanismus, der sie 15 Sekunden nach dem Aufschlagen noch einmal zündet. Damit, so behauptet der israelische Hersteller IMI, werde die Fehlerquote auf weniger als ein Prozent gesenkt. Die US-Streitkräfte testeten den Selbstzerstörungsmechanismus mit MLRS-Raketen, weil sie auf diese Munitionsart nicht verzichten wollen. Das Ergebnis war eindeutig: Testabbruch wegen zu hoher Fehlerquote.

Auch für die Soldaten der künftigen Friedenstruppe sind die Blindgänger eine Gefahr. Doch die UN-Resolution, die der Waffenruhe zugrunde liegt, hat eine entscheidende Lücke: Sie fordert Israel zwar auf, Karten über verminte Gebiete zur Verfügung zu stellen, nicht aber Informationen über Ziele, die mit Streumunition angegriffen wurden.

Derzeit ist noch unklar, wie viele der rund 7000 Ziele, die allein die israelischen Luftwaffe nach eigenen Angaben angriff, bestreut wurden. Mehr als einige wenige waren es sicher. Das lassen auch die warnenden Flugblätter erahnen, die die Kampfflugzeuge Israels jetzt anstelle weiterer Submunitionen auf den Libanon herabregnen lassen.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS