Nur wenige Staaten sind für die Raketenabwehr
Washington hatte nie wirklich die Absicht, das geplante Raketenabwehrsystem zu einem
gemeinsamen Nato-Projekt zu machen.
Andreas Zumach
Kaum gelingen wird der Versuch deutscher RegierungspolitikerInnen, die innen- und
außenpolitischen Kontroversen um die US-Raketenabwehrpläne durch Einbindung dieser
Pläne in die Nato beizulegen. Allein deshalb, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel dabei
von einer falschen Ausgangslage ausgeht. Vergangenen Donnerstag, kurz vor Antritt ihrer
Polenreise, hatte sie erklärt: "Es ist bereits 2002 auf dem Nato-Rat in Prag
beschlossen worden, dass die Nato sich ein solches Verteidigungssystem anschaffen
will."
Das aber ist falsch. Auf dem Prager Gipfel vom November 2002 wurde lediglich die
Ausarbeitung einer Machbarkeitsstudie für ein Raketenabwehrsystem beschlossen - nachdem
die USA die Verbündeten im Vorfeld des Gipfels über ihr nationales Raketenabwehr
unterrichtet hatten - inklusive der geplanten Stationierungsorte in Polen und Tschechien.
Beteiligt an dem Prager Beschluss waren der damalige Kanzler Schröder (SPD) und die
Minister Scharping (SPD) und Fischer (Grüne). Die Machbarkeitsstudie liegt seit Herbst
2006 vor. Auf dem Nato-Gipfel in Riga Ende November wurde die Studie von den Verbündeten
jedoch lediglich "zur Kenntnis genommen". Bei den bündnisinternen Diskussionen
im Vorfeld des Gipfels hatte sich von den 27 Mitgliedsstaaten fast eine
Zweidrittelmehrheit gegen das Raketenabwehrprojekt ausgesprochen - darunter auch eine
Mehrheit der neueren Nato-Staaten aus Ost- und Südosteuropa.
Insofern trifft die inzwischen vorgetragene Einschätzung der Bush-Administration zu,
dass weitere Beratungen im Nato-Bündnis keinen Konsensbeschluss für ein gemeinsames
Raketenabwehrprojekt ergeben werden - zumindest nicht in dem engen Zeitrahmen, den sich
die Bush-Administration für das Projekt gesetzt hat: bilaterale Abkommen mit Prag und
Warschau bis Ende 2007, Stationierung des Radars in Tschechien und der zehn Abwehrraketen
in Polen zwischen 2008 und 2012. Doch dies ist nur ein taktisches Argument. Tatsächlich
bestand in Washington nie die ernsthafte Absicht, das Raketenabwehrsystem, über
unverbindliche Unterrichtungen der Verbündeten hinaus, zu einem gemeinsamen Nato-Projekt
zu machen. Ein Projekt, bei dem die Verbündeten tatsächlich gleichberechtigten Zugang zu
der Technologie des Systems und den durch Radar gewonnenen Aufklärungsdaten hätten -
ebenso wie Mitentscheidungsrechte über den Abschuss von Abwehrraketen.
Selbst wenn die US-Regierung diese Haltung noch revidierte, wofür es jedoch keine
Anzeichen gibt, würde dies nichts ändern an der kritischen Wahrnehmung in Moskau. Und es
würde auch die Gefahr von Aufrüstungsgegenmaßnahmen Russlands nicht schmälern. Zwar
ist das US-amerikanische Rüstungsprojekt - zumindest in seiner bislang geplanten
Dimension von zehn Abfangraketen - militärisch noch keine signifikante Bedrohung für
Russland und sein strategisches Raketenarsenal. Allerdings bedeutete die Stationierung des
Radars und der Abfangraketen in Tschechien und Polen einen unilateralen Bruch der Zusage
an Moskau, auf den Territorien der neuen Nato-Mitgliedsstaaten keine Waffensysteme mit
strategischen Fähigkeiten zu stationieren. Zudem könnten die USA mit dem in Tschechien
stationierten Radar auch Spionageaufklärung von russischen Waffensystemen und
militärischer Infrastruktur betreiben. Diese Spionagemöglichkeiten würden noch
erweitert, wenn die USA - wie letzte Woche angekündigt - "im Kaukasus" ein
weiteres, mobiles Radarsystem stationierten.
Wenn die Berliner Koalition und die anderen Nato-Regierungen einen teuren und
gefährlichen Rüstungswettlauf in Europa/Russland vermeiden wollen, müssen sie endlich
die zentralen Frage diskutieren: Gibt es tatsächlich die von Washington bereits seit
Mitte der 90er-Jahre und verstärkt seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001
behauptete Bedrohung der USA und Europas durch strategische (Atom-)Raketen Irans,
Nordkoreas und anderer "Schurkenstaaten", gegen die sich das
US-Raketenabwehrsystem nach offizieller Version richten soll? Wenn es tatsächlich
entsprechende Bedrohungabsichten gibt, wann würden diese "Schurkenstaaten"
über die entsprechenden militärtechnischen Fähigkeiten verfügen? Und vor allem: Welche
politischen Möglichkeiten gäbe es, diese (etwaigen) Bedrohungsgefahren durch
Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen mit diesen "Schurkenstaaten"
einzudämmen und auszuschließen?
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