Sie hats tatsächlich getan
Andreas Zumach
Nach einer Bedenkzeit nimmt die SVP-Politikerin Eveline Widmer-Schlumpf ihre Wahl in den
Schweizer Bundesrat an. Nun wird sich die Partei spalten.
Die Spannung war mit Händen zu greifen. Lange hat nichts mehr die 7,6 Millionen
SchweizerInnen derart interessiert wie diese Entscheidung. Die Menschen warteten am
Donnerstagmorgen vor dem Fernseher, am Radio oder über das Internet auf den Auftritt der
SVP-Politikerin Eveline Widmer-Schlumpf. Um 8.06 Uhr war es schließlich so weit:
Widmer-Schlumpf verkündete, dass sie die am Mittwochmorgen durch die beiden Kammern des
Berner Bundesparlaments - den Nationalrat und den Ständerat - erfolgte Wahl als neues
Mitglied der siebenköpfigen eidgenössischen Bundesregierung, des Bundesrats, annimmt.
Bei den meisten Schweizerinnen und Schweizern machten sich Erleichterung und Freude
breit, in der Hauptstadt feierten gar anderthalb tausend Menschen die politische Wende.
Denn damit war entschieden, dass der seit 2003 amtierende Justizminister Christoph Blocher
und heimliche Führer der Schweizerischen Volkspartei aus der Regierung ausscheiden muss (siehe
Porträt). Auch im Parlament machten nicht nur Grüne und Sozialdemokraten keinen Hehl
aus ihrer Genugtuung über diese Entwicklung, sondern sogar die der bürgerlichen Mitte.
"Die Mehrheit des Parlaments wollte keinen Bandenchef mehr in der Regierung
haben", freute sich der liberale Abgeordnete Claude Ruey.
Blocher, seit vielen Jahren der bekannteste und umstrittenste Politiker der Schweiz,
war am Mittwoch seiner moderaten Parteikollegin Widmer-Schlumpf in zwei Wahlgängen
unterlegen. Die Konkurrentin ist seit 1998 in der Regierung des Kantons Graubünden für
das Finanzressort zuständig und seit 2003 auch Präsidentin der Finanzkonferenz aller 26
Kantone. Wegen ihrer sachorientierten, erfolgreichen Politik genießt sie in allen
politischen Lagern Respekt. Bei der Wahl zur Bundesrätin am Mittwochmorgen erhielt
Widmer-Schlumpf nicht nur sämtliche Stimmen der Sozialdemokraten und der Grünen. Auch
fast alle Abgeordneten der katholischen Christlichen Volkspartei (CVP) sowie etwa ein
Drittel der Fraktion der wirtschaftsliberalen FDP votierten für Blochers Gegenkandidatin.
Blocher sowie die Partei- und Fraktionsführung der SVP ließen anschließend nichts
unversucht, um die neugewählte Bundesrätin aus der eigenen Partei zum Amtsverzicht zu
bewegen - man warf ihr "Verrat" an der SVP und am "Volkswillen" vor.
Mit der Drohung, Blocher werde den Sitz seines Unternehmens Ems-Chemie - mit Abstand der
größte Steuerzahler in Graubünden - in einen anderen Kanton verlegen, sollte die
Graubündner SVP-Sektion von ihrer Unterstützung für Widmer-Schlumpf abgebracht werden.
Zudem stellten die Parteioberen der neugewählten Bundesrätin in Aussicht, sie werde ein
Regierungsmitglied "ohne Fraktion im Parlament" sein.
Mit derselben Drohung hatten Blocher und seine Strategen bereits versucht, den
moderaten Berner SVP-Politiker und bisherigen Verteidigungsminister Samuel Schmid zu
nötigen, sich nicht als Regierungsmitglied vereidigen zulassen. Schmid war am Mittwoch
vom Parlament mit glänzendem Resultat wiedergewählt worden. Hätte er dieser Erpressung
nachgegeben, wäre möglicherweise auch Widmer-Schlumpf während der 18-stündigen
Bedenkzeit, die sie sich unter dem massiven Druck der Partei- und Fraktionsführung am
Mittwochmittag ausgebeten hatte, umgefallen. Dann wäre Blocher gestern Morgen in einem
weiteren Wahlgang erneut angetreten.
Nun aber geht Blocher mit seiner SVP in die "Totalopposition". Mit
Referenden, Kampagnen und anderen Instrumenten außerparlamentarischer Politik wollen er
und seine Parteifreunde notfalls auch gegen Parlament und Regierung den
"Volkswillen" durchsetzen, der durch die Abwahl angeblich "missachtet"
wurde.
Nach Auffassung nahezu aller gestrigen Schweizer Zeitungskommentare ist Blochers Abwahl
allerdings in erster Linie seine eigene Schuld und die seiner Partei. Die Argauer
Zeitung spricht von einer "oft provozierenden, überheblichen, mal auch
unflätigen oder erpresserischen Art, zu politisieren". Die SVP habe ihren durch den
Sieg bei der Parlamentswahl vom Oktober legitimierten Machtanspruch "selbstherrlich
mit der Person Blocher verknüpft und damit die Niederlage selber provoziert",
kommentiert die Basler Zeitung. Und viele Medien erinnern daran, dass die SVP vor
vier Jahren erstmals in der Geschichte der Schweiz die Abwahl einer amtierenden
Bundesrätin durchgesetzt hat, außerdem mehrfach seit den 70er-Jahren die offiziellen
BundesratskandidatInnen der SP verhindert und statt ihrer konservativen Sozialdemokraten
zum Amt verholfen hat.
Von der "Totaloppositions"-Drohung des Blocher-Flügels zeigen sich
Sozialdemokraten und Grüne unbeeindruckt. Sie meinen, seit seiner Wahl zum Justizminister
im Herbst 2003 habe Blocher bereits permanent eine Doppelrolle gespielt - als Mitglied der
Exekutive und zugleich als Volkstribun, der Opposition gegen die Regierung betreibt,
finanziert und artikuliert.
Im Frühjahr soll Blocher auch ganz offiziell zum Parteichef gewählt werden. Vorher
wird sich die SVP aber wahrscheinlich spalten. Von ihren derzeit 62 Abgeordneten im
Nationalrat werden möglicherweise bis zu 20 - unter anderem aus den moderaten
Parteigliederungen in Graubünden und Bern - eine neue Fraktion gründen. Oder sie
schließen sich der Christlichen Volkspartei an.
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