Völkermord? Abwarten
Andreas Zumach
Kofi Annan will der UN eine verbindliche "Verantwortung zum Schutz" vor
Völkermord übertragen wissen. Ein Bündnis vieler Staaten wehrt sich dagegen.
Zu den unter den UNO-Mitgliedern umstrittensten Passagen des Entwurfs zur
Abschlusserklärung des UN-Gipfels Mitte September gehören die Artikel 118-120 über die
"Verantwortung zum Schutz" von Völkern vor Genozid, Verbrechen gegen die
Menschheit und anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Jean Ping, Präsident
der UN-Versammlung, übernahm hier weitgehend die Formulierungen aus dem Reformvorschlag
von UNO-Generalsekretär Kofi Annan vom März.
Die "Verpflichtung zum Schutz" des eigenen Volkes liege in erster Linie bei der
Regierung eines Landes, hatte Annan damals geschrieben. Sei eine Regierung aber
"unfähig oder unwillig", diese Schutzverantwortung wahrzunehmen, gehe diese auf
die UNO und ihren Sicherheitsrat über. Der Rat solle dann - nach genau festgelegten
Kriterien - das Recht haben, vorrangig mit zivilen, notfalls aber auch militärischen
Mitteln einzugreifen.
Annan hatte die UNO-Generalversammlung aufgefordert, diese "Verpflichtung zum
Schutz" per Resolution zur neuen völkerrechtlichen Norm zu erheben. Die
Bush-Administration will zwar das Recht und die Möglichkeit zur Intervention, will eine
verstärkte bindende Verpflichtung aber verhindern, um im konkreten Einzelfall je nach
eigener Interessenlage entscheiden zu können und auch Nein zu einer Intervention sagen zu
können - so wie 1994 beim Völkermord in Ruanda. Daher vermeidet die Bush-Administration
in ihrem Korrekturvorschlag zum Ping-Entwurf den Begriff der "Verpflichtung" und
spricht stattdessen lediglich vage davon, dass die internationale Gemeinschaft und der
Sicherheitsrat zum Handeln "bereit sein sollten" und "Entscheidungen
treffen könnten". Außerdem lehnt Washington den Vorschlag von Annan und Ping ab,
dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates künftig auf das Veto verzichten
bei Entscheidungen zum Thema Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und
Kriegsverbrechen.
Mit ihrer Haltung sind die USA Teil einer großen Koalition von Staaten (darunter Iran,
Pakistan, Syrien, Kuba, Ecuador, Russland, China, Brasilien und Indien), die die Artikel
des Ping-Entwurfs über die "Verpflichtung zum Schutz" ebenfalls verwässern
wollen, wenn auch aus anderen Motiven: weil sie darin einen grundsätzlichen Widerspruch
gegen das Prinzip der staatlichen Souveränität und territorialen Unverletztlichkeit
sehen oder befürchten, die von Annan und Ping vorgeschlagene neue völkerrechtliche Norm
könne für Interventionen aus anderen Interessen missbraucht werden.
Mit Blick auf die Anwendung militärischer Gewalt sind die USA auf weitgehende unilaterale
Handlungsfreiheit und auf Unabhängigkeit von Entscheidungen der UNO bedacht. Die
Formulierung, dass der Einsatz von Gewalt nur "als letztes Mittel" gelten soll,
wollen die USA tilgen lassen, ebenso den Hinweis auf die von Generalsekretär Kofi Annan
im März vorgeschlagenen Kriterien für den Einsatz von Gewalt und auf die
"notwendige weitere Diskussion" darüber.
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