TAZ
22. September 2005


Ein Chamäleon als oberster Bundesrichter

Heute entscheidet der Rechtsausschuss des US-Senats über Präsident Bushs Kandidaten für das höchste Richteramt der USA. Nach der öffentlichen Ablehnung durch den demokratischen Fraktionsführer gilt plötzlich nichts mehr als sicher.

Andreas Zumach

"Ich habe zu viele unbeantwortete Fragen, um der Nominierung von John Roberts für diesen enorm wichtigen lebenslänglichen Posten zuzustimmen." Mit dieser Begründung hat der Fraktionsvorsitzende der Demokraten im US-Senat, Harry Reid, am Dienstagabend öffentlich angekündigt, er werde bei der für nächste Woche anberaumten Entscheidung des Senats über den Kandidaten von Präsident George W. Bush für das Amt des Vorsitzenden Richters beim Supreme Court mit Nein stimmen. Diese öffentliche Festlegung Reids - zumal vor der für heute angesetzten ersten Abstimmung im 18-köpfigen Rechtsausschuss des Senats - überraschte das Weiße Haus. Dort hatte man erwartet, der als Abtreibungsgegner bekannte Senator aus dem von den Republikanern dominierten Bundesstaat werde für Roberts stimmen - als einer von rund der Hälfte der 45 demokratischen Mitglieder des Senats.

Der künftige höchste Richter des Landes - so bislang die weit verbreitete Einschätzung in Washington - werde eine komfortable überparteiliche Mehrheit von mindestens 85 der 100 Senatoren erhalten, so wie das seit Anfang des letzten Jahrhunderts stets der Fall war. Doch nach der öffentlichen Festlegung des demokratischen Fraktionsführers wird damit gerechnet, dass bei der heutigen Abstimmung im Rechtsausschuss neben Edward Kennedy - der sich schon sehr früh öffentlich gegen Roberts festgelegt hatte - mindestens weitere fünf der acht demokratischen Senatoren gegen Roberts stimmen und dass Bushs Richterkandidat bei der Entscheidung im Senatsplenum mindestens 30 Gegenstimmen aus dem demokratischen Lager erhält. Plötzlich gilt nicht einmal als sicher, dass Roberts die Zweidrittelmehrheit von 66 Stimmen erreicht.

Senator Reid erklärte sein Nein zu Roberts unmittelbar nachdem ihm die VertreterInnen von 40 Frauen- und Bürgerrechtsorganisationen ihre massiven Bedenken gegen den Kandidaten für das höchste Richteramt dargelegt hatten. Roberts Positionen zu den Themen Abtreibung und Homosexualität, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, Einwanderung und der gezielten Förderung von Minderheiten ("Affirmative Action") hatten sie zur Begründung angeführt. Zu all diesen Themen führt die republikanische Rechte in den USA intensive Kampagnen mit dem Ziel, die liberale Rechtsprechung und Gesetzgebung der letzten 30 Jahre zu korrigieren. Und zu fast all diesen Themen hatte Roberts in seiner Karriere, zunächst als Anwalt für die republikanischen Regierungen der Präsidenten Reagan und Bush senior und zuletzt als Richter in Washington, D.C, ähnliche Positionen vertreten wie die republikanische Rechte.

Doch bei den fast dreitägigen Anhörungen vor dem Rechtsausschuss des Senats vermied der Kandidat Roberts fast zu allen wichtigen Fragen klare Positionen - nicht nur zur Frustration der demokratischen Senatoren, sondern auch des republikanischen Ausschussvorsitzenden Arlen Specter. Zu den Rechtsgutachten, die er als Anwalt in den Administrationen Reagan und Bush senior verfasst hatte, erklärte Roberts, dies seien "Auftragsarbeiten" gewesen, die nicht notwendigerweise seine persönliche Meinung wiedergeben würden. Auf zahlreiche Fragen, ob er als Vorsitzender des Supreme Court das 33 Jahre alte Urteil des Gerichts zur Rechtmäßigkeit der Abtreibung korrigieren würde, reagierte Roberts zwar mit ausführlichen juristischen Überlegungen, vermied aber eine klare Auskunft.

Zu vielen anderen Themen verweigerte er jegliche Antwort mit der Begründung, zu Fragen, die dem Supreme Court unter seinem künftigen Vorsitz möglicherweise zur Entscheidung vorgelegt würden, wolle er sich nicht äußern. Zudem verweigerte das Weiße Haus dem Rechtsausschuss die Herausgabe einer Reihe von Gutachten, die Roberts in den 80er-Jahren für die Reagan-Administration verfasst hatte. Nach Ende der Anhörungen äußerte zahlreiche Ausschussmitglieder, sie wüssten immer noch nicht, was der Kandidat Roberts zu vielen entscheidenden Fragen tatsächlich denke.

Die New York Times nannte Roberts in einem Leitartikel zwar einen "brillanten, hochqualifizierten Juristen", empfahl dem Senat aber dennoch die Ablehnung des Kandidaten. Dazu wird es zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht kommen. Doch der Verlauf der Diskussion um den Kandidaten Roberts und die öffentliche Festlegung des demokratischen Fraktionsführers Reid auf seine Ablehnung sind ein klares Signal an Präsident Bush, als NachfolgerIn für die demnächst ausscheidende eher liberale Richterin Sandra OConnor nicht erneut einen Konservativen vom Schlage Roberts zu nominieren.