Ein Chamäleon als oberster Bundesrichter
Heute entscheidet der Rechtsausschuss des US-Senats über Präsident Bushs Kandidaten
für das höchste Richteramt der USA. Nach der öffentlichen Ablehnung durch den
demokratischen Fraktionsführer gilt plötzlich nichts mehr als sicher.
Andreas Zumach
"Ich habe zu viele unbeantwortete Fragen, um der Nominierung von John Roberts für
diesen enorm wichtigen lebenslänglichen Posten zuzustimmen." Mit dieser Begründung
hat der Fraktionsvorsitzende der Demokraten im US-Senat, Harry Reid, am Dienstagabend
öffentlich angekündigt, er werde bei der für nächste Woche anberaumten Entscheidung
des Senats über den Kandidaten von Präsident George W. Bush für das Amt des
Vorsitzenden Richters beim Supreme Court mit Nein stimmen. Diese öffentliche Festlegung
Reids - zumal vor der für heute angesetzten ersten Abstimmung im 18-köpfigen
Rechtsausschuss des Senats - überraschte das Weiße Haus. Dort hatte man erwartet, der
als Abtreibungsgegner bekannte Senator aus dem von den Republikanern dominierten
Bundesstaat werde für Roberts stimmen - als einer von rund der Hälfte der 45
demokratischen Mitglieder des Senats.
Der künftige höchste Richter des Landes - so bislang die weit verbreitete Einschätzung
in Washington - werde eine komfortable überparteiliche Mehrheit von mindestens 85 der 100
Senatoren erhalten, so wie das seit Anfang des letzten Jahrhunderts stets der Fall war.
Doch nach der öffentlichen Festlegung des demokratischen Fraktionsführers wird damit
gerechnet, dass bei der heutigen Abstimmung im Rechtsausschuss neben Edward Kennedy - der
sich schon sehr früh öffentlich gegen Roberts festgelegt hatte - mindestens weitere
fünf der acht demokratischen Senatoren gegen Roberts stimmen und dass Bushs
Richterkandidat bei der Entscheidung im Senatsplenum mindestens 30 Gegenstimmen aus dem
demokratischen Lager erhält. Plötzlich gilt nicht einmal als sicher, dass Roberts die
Zweidrittelmehrheit von 66 Stimmen erreicht.
Senator Reid erklärte sein Nein zu Roberts unmittelbar nachdem ihm die VertreterInnen von
40 Frauen- und Bürgerrechtsorganisationen ihre massiven Bedenken gegen den Kandidaten
für das höchste Richteramt dargelegt hatten. Roberts Positionen zu den Themen Abtreibung
und Homosexualität, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, Einwanderung und der
gezielten Förderung von Minderheiten ("Affirmative Action") hatten sie zur
Begründung angeführt. Zu all diesen Themen führt die republikanische Rechte in den USA
intensive Kampagnen mit dem Ziel, die liberale Rechtsprechung und Gesetzgebung der letzten
30 Jahre zu korrigieren. Und zu fast all diesen Themen hatte Roberts in seiner Karriere,
zunächst als Anwalt für die republikanischen Regierungen der Präsidenten Reagan und
Bush senior und zuletzt als Richter in Washington, D.C, ähnliche Positionen vertreten wie
die republikanische Rechte.
Doch bei den fast dreitägigen Anhörungen vor dem Rechtsausschuss des Senats vermied der
Kandidat Roberts fast zu allen wichtigen Fragen klare Positionen - nicht nur zur
Frustration der demokratischen Senatoren, sondern auch des republikanischen
Ausschussvorsitzenden Arlen Specter. Zu den Rechtsgutachten, die er als Anwalt in den
Administrationen Reagan und Bush senior verfasst hatte, erklärte Roberts, dies seien
"Auftragsarbeiten" gewesen, die nicht notwendigerweise seine persönliche
Meinung wiedergeben würden. Auf zahlreiche Fragen, ob er als Vorsitzender des Supreme
Court das 33 Jahre alte Urteil des Gerichts zur Rechtmäßigkeit der Abtreibung
korrigieren würde, reagierte Roberts zwar mit ausführlichen juristischen Überlegungen,
vermied aber eine klare Auskunft.
Zu vielen anderen Themen verweigerte er jegliche Antwort mit der Begründung, zu Fragen,
die dem Supreme Court unter seinem künftigen Vorsitz möglicherweise zur Entscheidung
vorgelegt würden, wolle er sich nicht äußern. Zudem verweigerte das Weiße Haus dem
Rechtsausschuss die Herausgabe einer Reihe von Gutachten, die Roberts in den 80er-Jahren
für die Reagan-Administration verfasst hatte. Nach Ende der Anhörungen äußerte
zahlreiche Ausschussmitglieder, sie wüssten immer noch nicht, was der Kandidat Roberts zu
vielen entscheidenden Fragen tatsächlich denke.
Die New York Times nannte Roberts in einem Leitartikel zwar einen "brillanten,
hochqualifizierten Juristen", empfahl dem Senat aber dennoch die Ablehnung des
Kandidaten. Dazu wird es zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht
kommen. Doch der Verlauf der Diskussion um den Kandidaten Roberts und die öffentliche
Festlegung des demokratischen Fraktionsführers Reid auf seine Ablehnung sind ein klares
Signal an Präsident Bush, als NachfolgerIn für die demnächst ausscheidende eher
liberale Richterin Sandra OConnor nicht erneut einen Konservativen vom Schlage Roberts zu
nominieren.
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