TAZ
27. Oktober 2004


Ein hochexplosives Problem der USA

Die Bush-Administration trägt die Verantwortung für das Verschwinden von Sprengstoffen aus dem Irak. Das entwendete Material ist weit gefährlicher als die 400.000 Tonnen bislang von den US-Truppen zerstörte oder gesicherte Munition

Andreas Zumach

Die Bush-Administration hat vergeblich versucht, ihre Verantwortung für das am Montag bekannt gewordene Verschwinden von 340 Tonnen hochexplosiven Sprengstoffs aus der irakischen Militäranlage al-Kakaa zu leugnen und die Brisanz dieses Vorfalls herunterzuspielen. Das Material taugt auch für die Zündung von Atomsprengköpfen.

Es sei "unklar", ob der Sprengstoff vor oder nach dem Einmarsch der US-geführten Truppen in den Irak im März 2003 verschwunden sei, hatte Pentagon-Sprecher Larry di Rita am Montagabend zunächst behauptet. Wenig später musste Regierungssprecher Scott McClellan einräumen, dass der Sprengstoff erst abhanden kam, nachdem die US-Besatzungstruppen die Verantwortung für die Bewachung aller irakischen Militäranlagen übernommen hatten. Zwischen beiden Aussagen war ein Brief bekannt geworden, in dem der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), Mohammed El-Baradei, den UNO-Sicherheitsrat am Montag über die Affäre unterrichtet hatte. Darin heißt es, der fehlende Sprengstoff sei "nach dem 9. April 2003 aufgrund fehlender Sicherheit durch Diebstahl und Plünderung von Regierungseinrichtungen abhanden gekommen".

Bis zu ihrem Rausschmiss aus dem Irak durch die Bush-Administration Mitte März 2003 hatten Inspektoren der IAEO al-Kakaa und andere irakische Militäranlagen, in denen potenziell atomwaffentaugliche Materialien lager(te)n, regelmäßig überwacht. Die 340 Tonnen Sprengstoff wurden von der IAEO versiegelt. Noch vor Kriegsbeginn forderte El-Baradei die Bush-Administration in einem Schreiben ausdrücklich auf, die Militäranlage im Falle eines Angriffs gegen Irak so schnell wie möglich unter Bewachung zu stellen.

Regierungssprecher McClellan versuchte, die Brisanz der Affäre mit dem Hinweis herunterzuspielen, die US-Truppen im Irak hätten seit März 2003 "mehr als 243.000 Tonnen Munition zerstört und weitere 163.000 Tonnen gesichert". Dabei handelt es sich allerdings fast ausschließlich um herkömmliche Sprengstoffe (wie z. B. Dynamit), die in allen Armeen dieser Welt vorhanden und teilweise sogar auf dem freien Markt erhältlich sind.

Die aus al-Kaaka entwendeten Sprengstoffe sind jedoch die explosionsstärksten und -schnellsten, die weltweit existieren: 195 Tonnen HMX (high melting point explosive), 5,8 Tonnen PETN (Pentaerythritot Tetranitrate) sowie 141 Tonnen RDX (rapid detonation explosive) - der Hauptbestandteil des Plastiksprengstoffes Semtex.

Per Gewichtseinheit enthalten diese Sprengstoffe weit mehr Zerstörungskraft als TNT. Mit lediglich einem halben Kilo Semtex hatten Terroristen 1988 über dem schottischen Lockerbie ein Flugzeug der US-Gesellschaft Pan Am zum Absturz gebracht. Da HMX, PETN und RDX allein durch Stöße nicht zur Explosion gebracht werden können, sind sie sehr transportsicher. In kleineren Mengen lassen sie sich auch im Fluggepäck verstecken - auch vor Metalldetektoren oder Wärmesensoren.

Aufgrund ihrer hohen Dichte und Explosionskraft werden diese Sprengstoffe auch für die Zündung von Atomsprengköpfen verwendet. Deswegen und weil die Anlage al-Kaaka bis Anfang der 90er-Jahre auch für die Entwicklung von Atomwaffen genutzt wurde, hatte die IAEO die dort gelagerten Sprengstoffe ihrer Kontrolle unterworfen. Von einer Zerstörung der Sprengköpfe sah die IAEO ab. Denn das Regime Saddam Husseins reklamierte einen zivilen Nutzen dieser Sprengstoffe, der auch in anderen Ländern durchaus üblich ist - etwa bei der Sprengung von Felsen für den Tunnelbau.