Gegen das Völkerrecht
In einem Bericht beziffert Human Rights Watch die zivilen Opfer
des Nato-Krieges gegen Belgrad auf 500 Tote
Andreas Zumach
Die Nato soll eine unabhängige und
unparteiische Kommission berufen, die die genaue Anzahl der zivilen
Todesopfer des 78-tägigen Nato-Luftkrieges gegen Jugoslawien im
letzten Jahr feststellt. Das fordert die in New York beheimatete
internationale Menschenrechtsrechtsorganisation Human Rights Watch
(HRW), die am Montag einen eigenen Report zu dem Thema vorgelegt hat.
(siehe gestrige taz).
Danach wurden zwischen dem 24. März und 7. Juni 1999 rund 500
Zivilisten durch Nato-Luftangriffe getötet. Die
Militärallianz hat bis heute keine eigenen Zahlen vorgelegt. Das
US-Verteidigungsministerium Pentagon räumte lediglich "20
bis 30 Angriffe" mit "unbeabsichtigen zivilen Todesopfern
ein. Nach Darstellung der Belgrader Regierung wurden bis zu 5.000
Zivilisten getötet.
Die HRW-Studie ist die bislang umfangreichste und detaillierteste
Untersuchung zur Frage ziviler Todesopfer der Nato-Luftangriffe -
ohne dass die Autoren den Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Die Untersuchung beruht auf Vor-Ort-Recherchen von HRW-Experten im
August letzten Jahres sowie auf zahlreichen Interviews mit Vertretern
der Belgrader Regierung, von Lokalbehörden und mehrerer
Verteidigungsministerien von Nato-Staaten, in erster Linie der
USA.
Nach Erkenntnissen der HRW gab es bei 90 Luftangriffen zwischen
488 und 527 zivile Todesopfer. Die Zahl ist deswegen nicht genau,
weil HRW in 3 der 90 untersuchten Fälle weder die jeweilige
Zahl der Toten noch ihre Namen feststellen konnte.
Bei 62 Fällen konnte HRW das anvisierte Ziel der Nato-Bomben
oder -Raketen feststellen. Die große Mehrheit waren
militärische Ziele; neunmal wurden zivile Installationen gezielt
angegriffen: das Gebäude des Serbischen Staatsfernsehens und
-rundfunks in Belgrad, ein Heizkraftwerk in Belgrad sowie sieben
Brücken, die nach HRW-Einschätzung "weder wichtig
waren für den Transport von Gütern noch eine andere
militärische Funktion hatten".
Laut HRW habe sich die Nato zwar "keiner Kriegsverbrechen
schuldig gemacht". Doch seien die gezielten Angriffe auf zivile
Einrichtungen ein " klarer Verstoß gegen das
humanitäre Völkerrecht" - unter anderem gegen die vier
Genfer Konventionen von 1949 und ihre beiden Zusatzprotokolle von
1977.
Auch in vielen Fällen beabsichtigter Angriffe auf
militärischer Ziele habe die Nato ihre völkerrechtliche
Pflicht verletzt, die Zivilbevölkerung rechtzeitig zu warnen und
ausreichend zu schützen. 33 der untersuchten 90 Angriffe
erfolgten auf militärische Ziele inmitten dicht besiedelter
Gebiete, darunter 6 in Belgrad.
Durch so genannte Streubomben, die nach dem Aufprall hunderte
kleinere Sprengkörper verschießen, wurden laut HRW
zwischen 90 und 150 Zivilisten getötet. Nach der
öffentlichen Kritik am Einsatz dieser Bomben in den ersten
Kriegswochen habe US-Präsident Bill Clinton am 7. Mai der
US-Luftwaffe die weitere Verwendung untersagt, heißt es in dem
HRW-Bericht. Die britische Luftwaffe habe jedoch möglicherweise
auch noch nach diesem Datum Streubomben eingesetzt.
Neben dem Angriff auf das serbische Fernseh-und Radiogebäude
in Belgrad liefert der Bericht auch umfangreiche Detailinformationen
zur einer Reihe weiterer Angriffe, die seinerzeit Schlagzeilen
machten und für die Propaganda der Nato oder der Regierung
Miloðevic eine wichtige Rolle spielten. Darunter ist der
Luftangriff auf das Gefängnis Dubrava im Kosovo am 21. Mai, bei
dem nach Belgrader Darstellung 95 Zivilisten - albanische Gefangene
und einige serbische Wärter - getötet wurden. Nach
Erkenntnis der HRW wurden lediglich 19 Menschen Opfer dieses
Angriffes; 75 Gefangene seien unmittelbar danach von serbischen
"Sicherheitskräften" hingerichtet worden.
Mit Blick auf etwaige künftige Konflikte fordert HRW die Nato zu einer
Überprüfung ihrer Zieldefinitionen und -planungen auf. Bei
zahlreichen der rund 38.000 Angriffe während des Krieges gegen
Jugoslawien sei die von der Nato vorgenomme Einstufung von Anlagen
als "legitime militärische Ziele" äußerst
fragwürdig.
|