Standpunkte / Rosa Luxemburg Stiftung
Ausgabe 28 / Oktober 2010


Die nukleare Zukunft der NATO

von Otfried Nassauer

 

3. Auf dem Weg zu einer neuen NATO-Strategie - Mögliche Streitpunkte

Mit dem Nuclear Posture Review sind die USA für die Diskussion in der NATO in Vorlage getreten. Zu seinen zentralen Aussagen und Überlegungen müssen sich die anderen NATO-Länder nun verhalten. Dazu gibt er hinlänglich Anlass. Denn im Gegensatz zu der Arbeit am Strategischen Konzept der NATO 1999, das im nuklearen Bereich und im Blick auf die Abschreckungskonzeption lediglich eine Fortschreibung des zuvor gültigen Strategischen Konzeptes (Rom, 1991) darstellte, bricht der NPR 2010 mit etlichen traditionellen Sachverhalten und Denkweisen in der nuklearen Abschreckungskonzeption und stellt  die NATO vor einige grundlegend neu zu bewertende Fragen. Insofern ähnelt die Aufgabe für der NATO bei der Erarbeitung ihres Strategischen Konzeptes 2010 eher der Phase von 1962-1968, als die Allianz sich nach einem Umbruch in der nationalen Nuklearstrategie der USA von den Vorstellungen der Massiven Vergeltung verabschieden musste und sich nach intensiver Diskussion und harten internen Friktionen[1] für die Einführung einer neuen Strategie, der Flexiblen Antwort, entschied.[2] Anlass zu einer gründlichen Diskussion sollten u.a. die folgenden inhaltlichen Aspekte geben:


3.1. Bedrohungsperzeption und Nuklearpotential

Die Bedrohungsperzeption des NPR muss hinterfragt werden. Der NPR 2010 erachtet den Zugriff von Terroristen auf Nuklearwaffen oder nuklearwaffenfähige Materialien als größte Bedrohung, gefolgt von staatlicher Proliferation. Die Aufrechterhaltung „strategischer Stabilität“ gegenüber den anderen Nuklearmächten (Russland, China etc.) wird erst als dritte Priorität genannt. In erkennbarem Widerspruch dazu orientieren sich die Aussagen zur Zukunft des nuklearen Dispositivs der USA im NPR aber an einer genau umgekehrten Rangfolge. Auch wenn man dem NPR zugute halten wollte, dass er ein Begründungsmuster für deutliche Schwerpunktsetzungen bei der Nichtverbreitungspolitik und ihren nicht-nuklearen oder gar nicht-militärischen Instrumenten liefern soll, muss man fragen, ob diese Bedrohungsperzeption sachlich gerechtfertigt oder vor allem politischer Opportunität, der innenpolitischen Debatte in den USA oder der Hoffnung auf eine breite internationale Vermittelbarkeit geschuldet ist. Wenn es größere Bedrohungen als die Nuklearwaffenpotentiale anderer Nuklearmächte gibt, dann müsste sich deren Priorität auch in der Ausgestaltung des künftigen nuklearen Dispositivs deutlich spiegeln. Dies ist – im Blick auf zusätzlichen Abschreckungselemente wie die Raketenabwehr und Fähigkeiten zu Prompt-Global Strikes zu erkennen, nicht aber im Blick auf die nukleare Komponente des Abschreckungsdispositivs, das eigentlich in der Konsequenz deutlich verkleinert und in ihrer Rolle deutlicher zurückgestuft werden müsste. Hier bietet sich – je nach politischem Willen – künftigen U.S.-Regierungen die Wahlmöglichkeit, die Rolle nuklearer Waffen wieder auszuweiten oder tatsächlich weiter zu reduzieren. Die Regierung Obama gibt vor, mit der neuen Schwerpunktsetzung eine Verringerung der Rolle nuklearer Waffen erreichen zu wollen, wird aber mit ihren umfassenden nuklearen Modernisierungsplänen künftigen Regierungen der USA auch die Fähigkeiten an die Hand geben, die für eine erneute Ausweitung der Rolle nuklearer Waffen und möglicherweise für eine Absenkung der Einsatzschwelle erforderlich wären.

Als Illustration kann die Modernisierung der Bomben vom Typ B-61 dienen. Sie haben eine variable Sprengkraft, die auf Nuklearexplosionen im Subkilotonnenbereich (0,1 KT), im Kilotonnenbereich oder gar im Bereich mehrerer Hundert Kilotonnen[3] (wie bei strategischen Waffen) eingestellt werden kann. Wird diese Spannbreite im Rahmen der Modernisierung beibehalten oder gar nach unten erweitert, so führt die Entwicklung der B-61-12 zu einer neuen Phase der bereits bekannten Diskussion über militärisch besser nutzbarere „Mini-Nukes“, bei deren Einsatz Kollateralschäden bewusst minimiert werden können, sodass die Hemmschwelle gegen ihren Einsatz absinken könnte.

Ob die NATO der Bedrohungseinschätzung Washingtons folgen und die damit verbundenen Risiken eingehen will, muss also diskutiert werden.


3.2. Negative Sicherheitsgarantie

Eine zweite Problematik ergibt sich aus der veränderten Negativen Sicherheitsgarantie des NPR und der Forderung des Albright-Berichtes, die NATO solle diese übernehmen. Der Verzicht der Androhung oder Durchführung eines Nuklearwaffeneinsatzes bezieht sich nicht auf alle nicht-nuklearen Staaten, sondern nur auf jene, die NVV-Mitglieder sind und ihre Verpflichtungen aus dem NVV einhalten. Eine Übernahme dieser Garantie durch alle NATO-Mitglieder würde deshalb wichtige, auch völkerrechtsrelevante Fragen aufwerfen: Wer entscheidet, ob ein Staat seinen Verpflichtungen aus dem NVV nicht mehr nachkommt, also von dieser Garantie ausgenommen wird? Die USA, der NATO-Rat, die Internationale Atomenergie-Behörde oder die Vereinten Nationen?[4] Und auf welcher Grundlage? Muss ein eindeutiger Beweis für einen – wie schweren - Verstoß gegen die Verpflichtungen aus dem NVV vorliegen oder reicht ein Indizienbeweis oder gar eine begründete Vermutung aus? Aus den Erfahrungen über den Umgang mit dem Irak und dem Iran lässt sich die Gefahr einer voluntaristischen oder politisch-interessengeleiteten Fehlbeurteilung deutlich ableiten.
Auch wenn es lediglich die Absicht der Regierung Obama wäre, bei Proliferationsverdacht ein zusätzliches diplomatisches Druckmittel ins Spiel bringen zu können - das Risiko, künftig früh, indirekt oder direkt, in die Legitimationskette eines künftigen, potentiellen Waffengangs oder gar Nuklearwaffeneinsatzes hineingezogen zu werden, müsste die nicht-nuklearen Mitgliedern der NATO - gerade angesichts der Geschichte der Bündnisdiskussion über die Counterproliferationspolitik - zu größter Vorsicht gegenüber diesem Vorschlag mahnen. Verstärkend kommt hinzu, dass künftige Regierungen in Washington nicht zwingend eine ähnlich multilateral orientierte Politik wie die Obama-Administration verfolgen müssen.

Würde die NATO eine Negative Sicherheitsgarantie aussprechen, so würde sie sich zudem wie eine Nuklearmacht verhalten. Negative Sicherheitsgarantien wurden bislang nur von Nuklearwaffenstaaten eingefordert bzw. ausgesprochen. Würde das Bündnis als Ganzes eine solche Garantie abgeben, so würde dies zwangsläufig den Eindruck verstärken, dass die Nukleare Teilhabe nicht-nukleare Mitglieder der Allianz oder die NATO selbst zu Quasi-Nuklearmächten macht und somit im Widerspruch zu den Artikeln I und II des NVV steht. Dieser Vorschlag ist somit entweder nicht vollständig zuende gedacht oder – oder im Blick auf die nicht-nuklearen Mitglieder der NATO politisch vergiftet[5] und im Blick auf den NVV kontraproduktiv.

Aus deutscher Perspektive kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Die Negative Sicherheitsgarantie des NPR 2010 entspricht nicht den Anforderungen des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung an eine solche Garantie, die vor der Überprüfungskonferenz des NVV 2010 fraktionsübergreifend festgehalten wurden und die Nuklearmächte „zum verbindlichen Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen gegenüber Nichtnuklearwaffenstaaten“ auffordert und dabei keinerlei Ausnahmen kennt.[6] Die Bundesregierung müsste schon deshalb einer Übernahme der Negativen Sicherheitsgarantie aus dem NPR 2010 in das neue Strategische Konzept der NATO klar widersprechen.[7] Dabei kann argumentiert werden, dass eine solche Garantie zu den Privilegien der Nuklearmächte gehört. Zugleich hält dies auch die Option offen, der Aufnahme offensiver konventioneller militärischer Optionen zu Counterproliferationszwecken in die NATO-Strategie weiterhin eine Absage zu erteilen und somit völkerrechtlich nicht gedeckten präventiven bzw. präemptiven[8] Militärschlägen auch weiterhin zumindest im NATO-Kontext einen Riegel vorzuschieben.


3.3. Erweiterte und regionale Abschreckung

Eine dritte, mehrteilige Problemzone resultiert aus den Konzepten erweiterter Abschreckung und regionaler Abschreckung, die im NPR 2010 präsentiert und der NATO vorgeschlagen werden. Werden die nuklearen Instrumente der Abschreckung um andere strategische Elemente wie in Europa stationierte Raketenabwehrsysteme und weitreichende konventionelle, strategische Angriffsfähigkeiten erweitert, so hat dies für die europäischen NATO-Mitglieder relevante Konsequenzen: Sie werden aus russischer Perspektive ein Ort mit Fähigkeiten, die im Kontext der „strategischen Stabilität“ zu berücksichtigen sind. Waren es in den 1980er Jahren Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten bis tief in das russische Kernland, die solche Sorgen auslösten, so könnten es künftig andere Waffensysteme sein: Raketenabwehrsysteme mit der Fähigkeit, russische Interkontinentalraketen abzuschießen oder - im Falle ihrer Stationierung in Europa - konventionelle Flugkörper mit der Fähigkeit, Raketensilos oder andere strategische Ziele in Russland zu treffen.[9] Beides könnte russische Befürchtungen vor einem entwaffnenden Erstschlag oder einer empfindlichen Gefährdung der russischen Zweitschlagsfähigkeit wiederaufleben lassen. Das verdeutlichte bereits die Diskussion über die Raketenabwehrpläne George W. Bushs für Europa. Spätestens in der vierten Phase der durch die Regierung Barack Obama modifizierten Raketenabwehrplanung für Europa dürfte das Thema erneut virulent werden. Dann sieht auch diese Planung Fähigkeiten zum Abfangen von Langstreckenflugkörpern in Europa vor, so der BMDR.[10]

Zugleich dürfte der Begriff „regionales Abschreckungssystem“ in Europa ungute Erinnerungen an die 1970er und 1980er Jahre wecken. Damals war es ein zentrales Anliegen z.B. der Bundesregierung unter Helmut Schmidt, die erweiterte nukleare Abschreckung der NATO so auszugestalten, dass sie möglichst von der globalen Abschreckung nicht abgekoppelt werden konnte. Ein regional begrenzter Nuklearkrieg sollte als praktisch unmöglich erscheinen. Beiden Supermächten sollte mit der Einführung von weitreichenden Mittelstreckensystemen wie der Pershing-II vor Augen geführt werden, dass in jedem Krieg zwischen NATO und Warschauer Vertragsorganisation auch ihr Territorium kein Sanktuarium darstellen würde.  Dieses Interesse der europäischen nicht-nuklearen NATO-Staaten muss – trotz der heute sehr viel geringeren Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Auseinandersetzung – im Grundsatz weiter existieren, zumindest aber so lange, wie die NATO über eine nukleare Abschreckung verfügt, zu der sowohl strategische als auch substrategische Fähigkeiten gehören. Erst die Existenz und Präsenz substrategischer Waffen eröffnet ja die Möglichkeit, einen Nuklearwaffeneinsatz auf Europa zu begrenzen und in den Kategorien eines regionalen Abschreckungssystems zu denken. Je größer die geographische Nähe von NATO-Staaten zu Russlands ist, desto stärker müsste das Interesse wiegen, keine Möglichkeit eines regional begrenzten Atomkrieges zuzulassen. Gerade für jene Staaten, die in Russland einen potentiell aggressiven Nachbarn sehen, müsste es die größte Bedeutung haben, da sie ja der Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO eine größere Wahrscheinlichkeit nachsagen als andere Länder im Bündnis. Insofern argumentieren die – meist neuen – NATO-Mitglieder, die sich einen Verbleib der substrategischen Nuklearwaffen der USA in Europa wünschen, gegen ihr ureigenes vitales Interesse. Gerade aus ihrer Sicht müsste gelten: Eine NATO-Nuklearabschreckung, die ausschließlich aus strategischen Systemen besteht, ist besser für die „strategische Stabilität“ und dafür, dass Krieg in Europa weiterhin allen Beteiligten als nicht führbar erscheint.[11]

Vorstellungen eines regionalen Abschreckungssystems kann seitens der europäischen NATO-Staaten eigentlich nicht zugestimmt werden, ohne dass europäische NATO-Länder ihre eigenen Interessen gefährden und einer instabileren Abschreckungslogik folgen als der bestmöglichen.

Wesentliche Veränderungen bei der Beschreibung der Rolle nuklearer Waffen im neuen Strategischen Konzept der NATO sind angesichts dieser Rahmenbedingungen wenig wahrscheinlich. Der NPR 2010 beschreibt sie ähnlich wie das Strategische Konzept der NATO aus dem Jahr 1999. Sowohl das bisherige Strategische Konzept der NATO als auch der NPR nehmen nicht zu der Frage Stellung, ob und unter welchen Bedingungen die NATO respektive die USA sich die Option eines Ersteinsatzes offen halten. Durch die Einschränkung der Negativen Sicherheitsgarantie auf Länder, die keine Nuklearwaffen besitzen und ihre Verpflichtungen gemäß NVV einhalten, wird diese Option aber indirekt offen gehalten, weil er als Antwort auf einen B- oder C-Waffen-Einsatz durch ein solches Land weiter möglich bleibt. Einen Verzicht auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen kann die NATO also weiterhin nicht aussprechen, ohne die nationale Nuklearstrategie der USA zu konterkarieren. Bleibt ein solcher Einsatz dagegen eine unausgesprochene Option, so wird ein weiterer potentieller Streitpunkt – die Bedingungen, unter denen ein Ersteinsatz denkbar wäre – in der NATO auch künftig unter den Teppich gekehrt.


4. Problemzone „Nukleare Abrüstung“

Mit dem neuen START-Vertrag wird die vertraglich vereinbarte, überprüfbare nukleare Abrüstung durch Russland und die USA wiederbelebt. Die Abrüstungsschritte, die dieser Vertrag Moskau und Washington für die nächsten Jahre auferlegt, fallen allerdings faktisch relativ klein aus. Die Hoffnung, dass unmittelbar nach Ratifizierung des Vertrages ein weiterer, weitreichenderer Vertrag ausgehandelt werden wird, dürfte sich als trügerisch erweisen. Die Einigung auf den künftigen Verhandlungsgegen-stand kann sehr zeitraubend werden. Schon heute werden Anforderungen an die künftigen Gespräche formuliert, die deren Zustandekommen und deren Erfolg verkomplizieren dürften. Diese Forderungen werden zum einen im Kontext der U.S.-Diskussion über die Ratifizierung des neuen START–Vertrages im Senat laut, für die die Regierung Obama angesichts der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zumindest acht Stimmen aus dem republikanischen Lager benötigt. Sie zu gewinnen, ist zwar angesichts der begrenzten Tragweite des Vertrages nicht unmöglich, zugleich aber eine Frage des politischen Preises. Die künftige Modernisierung der Nuklearwaffen der USA und die Einbeziehung substrategischer und nicht-stationierter Nuklearwaffen in künftige Verhandlungen zwischen Washington und Moskau könnten von republikanischer Seite zu einem Teil dieses politischen Preises gemacht werden, da sie auf Unterstützung aus Außen-, Verteidigungs- und Energieministerium rechnen können.

Laut werden solche Forderungen auch im Kontext der Diskussion über die neue NATO-Strategie. Dem Bündnis gelang es im Vorfeld der Überprüfungskonferenz des NVV nicht, sich auf einen Verzicht oder auf eine Reduzierung der in Europa gelagerten substrategischen Nuklearwaffen zu einigen oder die Beendigung der technisch-nuklearen Teilhabe in Aussicht zu stellen. Die Möglichkeit, ein eigenständiges, Nichtverbreitung und nukleare Abrüstung stärkendes Signal an die Überprüfungskonferenz zu senden, blieb damit ungenutzt. Gleichwohl wollen viele NATO-Mitglieder, dass die Allianz Nichtverbreitung und nukleare Abrüstung wieder verstärkt als Aufgabenbereiche des Bündnisses versteht und die Dynamik nutzt, die sich aus dem neuen START-Vertrag und der Wiederbelebung der vertraglich vereinbarten Abrüstung ergeben könnte. Wie stark und mit welchen praktischen Folgewirkungen sich diese Absicht im neuen Strategischen Konzept niederschlagen wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Prognostizierbar sind dagegen die wichtigsten neuen Hürden auf dem Weg zu weitreichenderen Abrüstungsgesprächen:

  • Im NPR, im BMDR und in den Äußerungen Hillary Clintons in Tallin deutet sich an, dass eine weitere Redzierung der Rolle und Zahl nuklearer Waffen in Europa in Washington nur angedacht werden soll, wenn zugleich eine Stärkung der Raketenabwehr- und anderer konventioneller Fähigkeiten erfolgt. Eine solche Konditionierung kann einerseits zu jahrelangen Verzögerungen führen, weil in der NATO keine Einigkeit über Bedeutung, Umfang und Finanzierung einer territorialen Raketenabwehr in Europa erzielt werden kann. Sie kann andererseits von den USA aber auch als Druckmittel und Hebel eingesetzt werden, um eine Aufwertung der Raketenabwehr zu einer zentrale Aufgabe („mission“) der NATO zu erzwingen und skeptische europäische NATO-Staaten zu einer raschen, unzulänglich durchdachten, weitgehenden Übernahme der veränderten abschreckungspolitischen und nuklearstrategischen Vorstellungen Washingtons zu drängen.
  • Erhebliche zeitliche Verzögerungen für weitergehende Abrüstungsschritte können zudem daraus resultieren, dass substrategische und nicht-stationierte Nuklearwaffen Gegenstand des nächsten Vertrages über nukleare Abrüstung werden sollen. Hillary Clinton und ihre Mitarbeiter vertraten diese Auffassung sowohl während der Diskussion über die Ratifizierung des neuen START-Vertrages als auch während der Tagung der NATO-Außenminister in Tallin. Diese Position ist problematisch, weil sie zum einen die Einigung mit Moskau auf den Verhandlungsgegenstand der künftigen Vertragsgespräche erheblich erschweren kann. Zum anderen zwänge sie Russland und die USA, schon in der nächsten Runde abrüstungspolitischer Gespräche, rüstungskontrollpolitisches und verifikationstechnisches Neuland zu betreten: Bislang gab es noch nie Rüstungskontrollgespräche mit dem Ziel eines Vertrages, der atomare Sprengköpfe und Bomben zahlenmäßig begrenzen sollte. Verifikationsmechanismen für Gefechtsköpfe und Bomben, deren Außerdienststellung und Delaborierung sowie die für die Überprüfung erforderlichen Transparenzmaßnahmen mussten nie ausgehandelt werden, weil alle bisherigen Obergrenzen für nukleare Sprengköpfe rein rechnerischer Natur waren. Jedem Trägersystem wurde eine bestimmte, teils künstliche Gefechtskopfzahl zugeordnet.[12] Alle bisherigen Verhandlungen und Verträge hatten deshalb die großen, weithin sichtbaren Trägersysteme zum Gegenstand, deren Vorhandensein oder Zerstörung vergleichsweise leicht schon mittels nationaler technischer Mittel (wie z.B. Satelliten) zu überprüfen ist.[13] Die Existenz oder Nichtexistenz nuklearer Sprengköpfe musste bislang nicht verifiziert werden, da man sie den jeweiligen Trägersystemen zurechnete und zugleich Potentiale nicht-stationierter Sprengköpfe zuließ. Würde man versuchen, beide Probleme zufriedenstellend lösen, so wäre dafür (und für die Ratifizierung der Lösung) sicher erheblich mehr Zeit erforderlich als für die Aushandlung eines weiteren nuklearen Abrüstungsabkommens bisheriger Struktur.[14] Werden strategische und substrategische Abrüstung dagegen verkoppelt, so verlangsamt dies voraussichtlich die nächsten Abrüstungsschritte für beide Waffenkategorien erheblich und zeitigt damit wahrscheinlich auch negative Auswirkungen auf die Zukunft des NVV und die Stärkung der nuklearen Nichtverbreitung.[15]

 


Russlands taktische Nuklearwaffen

Litauens Präsidentin, Dalia Grybauskaite, schlug die Einladung zur Unterzeichnung des neuen START-Vertrages im April aus. Sie wolle keinen Champagner bei einem Anlass trinken, der „den Interessen der osteuropäischen und baltischen Staaten widersprechen könne“, erklärte sie Anfang September ihr Fernbleiben. Vilnius kritisiert, dass der neue START-Vertrag taktische Nuklearwaffen nicht erfasst. Genauer: Litauen fürchtet, dass Russland unweit seiner Grenze zum baltischen Nachbarn atomare Landminen zum Einsatz bereit hält, obwohl es im Rahmen der PNIs schon zu Beginn der 1990er Jahre versprochen hatte, alle taktischen Nuklearwaffen des Heeres außer Dienst zu stellen.[e1]

Auch wenn dieser Vorwurf wahrscheinlich nicht stimmt, er zeigt, welch sensibles Thema die taktischen Nuklearwaffen Russlands im Baltikum oder in Polen sind. Richtig ist, die Russische Förderation unterhält weiterhin substrategische Nuklearwaffen. Und Moskau weigert sich bislang, öffentlich zu machen, wie viele seiner ursprünglich über 15.000 Waffen dieser Art weiterhin im aktiven Bestand sind, wie viele Waffen eingelagert wurden, um auf die Delaborierung zu warten und wie viele Sprengköpfe bereits demontiert wurden. Naturgemäß führt diese Intransparenz zu Spekulationen darüber, wie bedrohlich das taktische Nuklearwaffenpotential Russlands heute noch ist. Manche Autoren schätzen, dass Moskau noch rund 5.000 solcher Waffen einsetzbar hält, andere gehen von rund 3.000 aus, wiederum andere halten noch rund 2000 Waffen für einsetzbar.[e2] Die NATO legt sich nicht fest und spricht allgemein von Tausenden solcher Waffen, die noch nicht delaboriert wurden.

Konkret und möglicherweise auch realistisch schätzen Experten der Federation of American Scientists und des Natural Ressources Defence Councils, dass Moskau heute noch rund 2.000 substrategische Nuklearwaffen bereit hält, von denen rund 700 Sprengköpfe dem Raketenabwehrsystem um Moskau und der russischen Luftverteidigung zugeordnet, 700 weitere für den Seekrieg gedacht und 650 strategische Bomber und taktische Kampfflugzeuge vorgesehen sind.[e3]

Russland wies seinen substrategischen Nuklearwaffen in seiner Sicherheitsstrategie und Militärdoktrin 1999/2000 eine kompensatorische Rolle für die konventionelle Überlegenheit der NATO samt Option des Ersteinsatzes zu.[e4] Es benutzte dabei die  gleiche Argumentation wie die NATO während des Kalten Krieges. Hochrangige Offizielle kündigten zudem wiederholt an, dass Moskau über die Einführung neuer taktischer Sprengkopftypen (z.B. für die Kurzstreckenrakete Iskander) nachdenke. Dies geschah zum einen, als die NATO-Staaten die im Kontext der Erweiterung der Allianz versprochene Anpassung der Verträge über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) 1999 nicht ratifizierten und kein Interesse an der versprochenen weiteren Anpassung an die zweite Erweiterungsrunde der NATO zeigten. Erneut kam das Thema auf, als russische Militärs auf die Pläne George W. Bushs, in Polen strategische Raketenabwehrsysteme zu stationieren, reagierten und ihrerseits mit der Stationierung von Iskander-Raketen in Kaliningrad drohten. Umgesetzt wurden solche Drohungen jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.

Der russische Bestand an taktischen Nuklearwaffen ist bis auf wenige Exemplare 20 Jahre alt und älter. Russische Nuklearwaffen haben normalerweise eine deutlich kürzere „vorgeplante“ technische Lebensdauer als vergleichbare Waffen der USA. Um sie länger als 10-15 Jahre nutzen zu können, müssen die meisten Waffen gründlich generalüberholt werden. Bei Waffen, die auf Plutonium-Basis gebaut wurden, betrifft dies sogar die nuklearen Komponenten. Da Russland schon bei der Lebensdauerverlängerung seiner strategischen Waffen an finanzielle und technische Grenzen stößt, ist kaum anzunehmen, dass substrategische Waffen in großem Umfang modernisiert oder gar neue gebaut wurden. Die noch einsetzbaren Bestände dürften zum größten Teil aus der Zeit kurz vor oder nach dem Zerfall der Sowjetunion stammen und nur noch eine begrenzte Lebensdauer haben.

Mittlerweile hat Russland auch die Rolle seiner substrategischen Nuklearwaffen neu beschrieben und sieht in diesen kein Gegenwicht zur konventionellen Überlegenheit der NATO mehr. In der neuen Militärdoktrin aus dem Jahr 2010 heißt es jetzt: „Die RF behält sich das Recht vor, als Antwort auf einen gegen sie und (oder) ihre Verbündeten erfolgten Einsatz von Kernwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen, ihrerseits Kernwaffen einzusetzen. Das gilt auch für den Fall einer Aggression mit konventionellen Waffen gegen die RF, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät.“[e5]


Endnoten:

[zum Text] Vgl. http://euobserver.com/13/30762 Wäre der Vorwurf richtig, so könnte man Moskau eine schwere Verletzung seiner Verpflichtungen aus den PNIs vorwerfen. Dafür aber gibt es keinen Beleg.

[zum Text] Eine gute Übersicht bieten: Gunnar Arbmann & Charles Thornton: Russia’s Tactical Nuclear Weapons, Part I and II, Swedish Defence Research Agency, FOI-R-1057-SE und FOI-R-1588-SE, Stockholm, November 2003 and February 2005

[zum Text] Hans M. Kristensen und Robert S. Norris: Russian Nuclear Forces 2010, in: Bulletin of Atomic Scientists, January 2010, S.76 http://thebulletin.metapress.com/content/4337066824700113/fulltext.pdf Der Bestand an nuklearen Bomben entspräche damit in etwa der Größenordnung, die auch die USA noch einsatzbereit halten. Dort sind es 500. Vgl.: Hans M. Kristensen und Robert S. Norris: U.S. Nuclear Forces 2010, in: Bulletin of Atomic Scientists, May/June 2010, S.58 http://thebulletin.metapress.com/content/067796p218428428/fulltext.pdf

[zum Text] Vgl.: Dresdner Studiengruppe Sicherheitspolitik: Militärdoktrin der Russischen Föderation, übersetzt von Rainer Böhme, Peter Freitag und Joachim Klopfer, DSS-Arbeitspapier 51.4, Dresden, 2000 und: diess.: Die Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation, DSS-Arbeitspapier 51.3, Dresden, 2000.

[zum Text] Dresdner Studiengruppe Sicherheitspolitik: Militärdoktrin der Russischen Föderation, übersetzt durch Rainer Böhme, Egbert Lemcke und Frank Preiß, Heft 99, Dresden, 2010, S.18

 

  • Forderungen der NATO-Expertengruppe unter Madeleine Albright und Hillary Clintons in Tallin, eine weitere Reduzierung der substrategischen Nuklearwaffen der NATO von mehr Transparenz Russlands im Blick auf seine substrategischen Waffen, deren Verlegung weg von den Außengrenzen der NATO16] und/oder weiteren Zugeständnissen Moskaus abhängig zu machen, dürften ebenfalls eine verzögernde Wirkung im Blick auf weitergehende nukleare Abrüstungsschritte haben. Die mangelnde Transparenz Moskaus dient heute wahrscheinlich eher dazu, russische Schwächen im russischen substrategischen Dispositiv zu verschleiern, als dazu, diese Waffen zur Kompensation eigener konventioneller Unterlegenheit weiter bevorraten zu wollen. Dafür spricht z.B. die deutlich reduzierte Rolle nuklearer Waffen in der russischen Militärdoktrin des Jahres 2010, in der den substrategischen Nuklearwaffen Russlands keine solche Kompensationsrolle mehr zugesprochen wird. Andererseits werden Vorschläge, die NATO solle russische Zugeständnisse im Bereich nicht-strategischer Nuklearwaffen durch eine Art erneuten Doppelbeschlusses[17] erzwingen, Moskau kurz- und mittelfristig nicht dazu veranlassen, von seiner langjährigen Haltung abzugehen, erst dann über diese Waffen verhandeln zu wollen, wenn Washington seine Waffen auf eigenes Territorium zurückzieht.
  • Schließlich lässt auch die geplante Modernisierung der Bomben des Typs B-61 ein Problem entstehen. Die neue Version B-61-12 soll sowohl vorhandene strategische als auch substrategische Versionen der B-61 ersetzen. Deren Unterscheidbarkeit ginge also verloren. Zählen alle B-61 dann als strategische oder als substrategische Waffen oder ist die Antwort auf diese Frage davon abhängig, welcher Art Trägersystem - strategischer Bomber oder DCA - die Bomben gerade zugeordnet sind?[18] Die Vorstellung, gemeinsam mit Russland die Eliminierung der Kategorie „substrategischer“ Nuklearwaffen in einem nächsten Abrüstungsvertrag festzuschreiben, kann dann nur noch als vertragliches Verbot aller freifallenden Atombomben realisiert werden oder sie wäre für Russland schlicht unattraktiv.

Es dürfte sich als schwierig erweisen, der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle im neuen Strategischen Konzept der NATO eine deklaratorisch gestärkte Rolle zuzuweisen. Die Widerstände sind groß.[19] Würde die NATO hier den Vorschlägen aus Washington folgen, so würden diese wahrscheinlich sogar zu einem gewichtigen Hindernis auf dem Weg zu weiteren Reduzierungen der Nuklearwaffenpotentiale. Wäre dies der politische Preis für eine deklaratorische Stärkung der nuklearen Abrüstung, so wäre europäischen NATO-Staaten, die eine solche Stärkung wünschen, davon abzuraten, ihren Wunsch weiter zu verfolgen. Der Preis wäre zu hoch.

Ganz anders liegen die Dinge im Bereich der nuklearen Nichtverbreitung. Eine starke Betonung dieses Themas und eine stärkere Rolle der Allianz in diesem Bereich deckt sich mit den Vorstellungen Washingtons und wird nicht an Vorbedingungen geknüpft. Damit kann sie zu einem für die Bündnispolitik bedeutenderen Feld aufgewertet werden, schon, weil „niemand etwas dagegen haben kann“. Das aber wäre - bei Übernahme der Vorstellungen des NPR - mit den bereits dargestellten nicht unerheblichen politischen Risiken verbunden und würde die Gefahr beinhalten, dass die NATO sich erneut auf eine intensive Diskussion über die militärischen Optionen der Counterproliferation einlassen müsste. Eine starke Betonung der Nichtverbreitung in der praktischen Politik eines Bündnisses, das primär über militärische Mittel verfügt, birgt per se das Risiko, dass die militärischen Mittel, deren potentielle Wirksamkeit und deren potentielle Rolle im Rahmen der Nichtverbreitungspolitik überbetont werden.


5. Nuklearwaffen, Raketenabwehr, erweiterte Abschreckung und Teilhabe

Geht es nach dem Willen der USA, der Expertengruppe unter Madelein Albright oder des NATO-Generalsekretärs, Anders Fogh Rasmussen, so ist ausgemacht, dass die Allianz die Abwehr ballistischer Raketen zu einer zentralen Aufgabenstellung (mission) machen wird. Damit bekäme die erweiterte Abschreckung eine neue, nicht-nukleare Komponente – wie von Washington gewünscht. Auf den ersten Blick scheint der Gedanke vielen europäischen NATO-Mitglieder reizvoll: Das Vorhaben kann als Stärkung der Bündnisverteidigung (Art. V des NATO-Vertrages) und Eingehen auf die Wünsche neuer Mitglieder betrachtet werden. Es könnte – ähnlich wie die nukleare Komponente der Abschreckung - als Form der „Teilhabe“ nicht-nuklearer europäischer Staaten an der Abschreckung - ausgestaltet werden[20] und so die Rolle jener Länder im Bündnis aufwerten, die zur nuklearen Abschreckung nicht beitragen können, wollen oder dürfen. Es kann als Reaktion auf eine sich verändernde Bedrohungslage - also z.B. auf Raketenprogramme im Mittleren Osten - gerechtfertigt werden. Zudem wird offensiv damit geworben, dass eine um die Raketenabwehr erweiterte Abschreckung es erleichtert, die Rolle nuklearer Waffen für die NATO weiter zu reduzieren und damit künftige Schritte atomarer Abrüstung ermöglicht. Mancher einer geht bereits so weit, in der Raketenabwehr ein künftiges „Substitut für die substrategischen Nuklearwaffen“ in Europa zu sehen.[21]

Ein Allheilmittel ist die Erweiterung der bisherigen „erweiterten Abschreckung“ um das Element Raketenabwehr jedoch nicht. Dafür sind mit diesem Vorhaben zu viele Risiken und Unwägbarkeiten verbunden.

Der Einstieg in das Vorhaben erscheint zunächst als wenig problematisch. Die NATO besitzt und plant bereits Raketenabwehrfähigkeiten im taktischen Bereich. Moderne Versionen des Luftabwehrsystems Patriot sollen NATO-Truppen bei Auslandseinsätzen gegen Kurzstreckenraketen der Scud-Klasse (etwa 300-650 km Reichweite) schützen. Geplant sind zudem Systeme wie MEADS, die auch Flugkörper mit bis zu 1.000 km Reichweite abfangen können. In einem nächsten Schritt sollen Abwehrfähigkeiten für ballistische Mittelstreckenraketen von bis zu 3.000 km Reichweite hinzukommen. Studien dazu hat die NATO bereits erstellen lassen. Bei dieser – derzeit in der NATO noch nicht vorhandenen Fähigkeit – setzte die Regierung Obama an, als sie das von der Vorgängerregierung unter George W. Bush geplante Raketenabwehrsystem in Polen und der Tschechischen Republik überarbeitete: Zur See – und später auch an Land – stationierte Abfangflugkörper des Typs SM-3 (und dessen Weiterentwicklungen) sollen die NATO dazu befähigen, das Territorium der europäischen NATO-Staaten schrittweise gegen eine aufwachsende Raketenbedrohung aus dem Iran zu schützen, während Teheran immer weiter reichende Raketen entwickelt. Der BMDR stellt das geplante System in seinen Entwicklungsstufen vor:[22]

  • In einer ersten Phase sollen um 2011 Teile Süd- und Südosteuropas mit der bereits vorhandenen Version des seegestützten Aegis-Systems und SM-3 Block IA Raketen geschützt werden. Zu diesem Vorhaben gehört ein in Europa stationiertes neues Radar.
  • In einer zweiten Phase sollen um 2015 leistungsfähigere Raketen vom Typ SM-3 Block IB, sowie weitere Aufklärungssysteme stationiert werden, um größere Teile Süd- und Südosteuropas abdecken zu können. Erstmals sollen landgestützte SM-3-Abfangraketen in einem europäischen Land, Rumänien, aufgestellt werden. In den Phasen I und II geht es um die Fähigkeit, Kurz- und Mittelstreckenraketen bekämpfen zu können.
  • In der dritten Phase soll um 2018 die Fähigkeit hinzukommen, Mittelstreckenraketen größerer und großer Reichweite abzufangen. Dazu wird zu Wasser und zu Lande wiederum eine neue Version der SM-3 mit der Bezeichnung Block IIA eingeführt. Sie hat einen größeren Durchmesser, kann mehr Treibstoff mitführen und hat somit eine größere Reichweite. Dieser Flugkörper soll erstmals auch an einem Standort in Nordeuropa aufgestellt werden und einen Schutz aller europäischen NATO-Staaten erlauben.
  • Um 2020 soll Phase 4 beginnen. Eine erneute Verbesserung der SM-3 zur Version Block IIB soll es ermöglichen, im mittleren Osten gestartete Interkontinentalraketen abzufangen. Natürlich erfordert jede der vier Phasen jeweils verbesserte Aufklärungs- und Führungsstrukturen.

Zusätzlich bekommt die zuständige Missile Defense Agency (MDA) der USA die Aufgabe, die technische Machbarkeit des Early Intercepts (EI), also des Abfangens gerade erst gestarteter Flugkörper, zu untersuchen.

Die europäischen NATO-Staaten müssen mögliche Einwände gegen und Fragen zu diesen Plänen gründlich durchdenken, um dem Drängen Washingtons und den Versprechen eines besseren Schutzes vor Erpressungsversuchen aus dem Mittleren Osten sowie größerer Abrüstungsmöglichkeiten im nuklearen Bereich nicht vorschnell nachzugeben. Die wichtigsten Aspekte:

  • Auch in seiner veränderten Form wird das Projekt einer in Europa stationierten Raketenabwehr - später, aber ziemlich sicher - zu einer massiven Verstimmung im Verhältnis zu Russland führen. Sobald um 2018/20 Raketenabwehrsysteme mit strategischen Fähigkeiten im Norden Europas stationiert werden, die Interkontinentalraketen abfangen könnten, greifen diese aus russischer Sicht in die strategische Stabilität ein und gefährden möglicherweise Moskaus gesicherte Zweitschlagsfähigkeit.[23] Daraus folgt die legitime Frage, ob der Aufbau strategischer Raketenabwehrfähigkeiten es der NATO längerfristig wert sein sollte, eine dauerhafte Ausgrenzung oder Selbstausgrenzung Russlands aus kooperativen Strukturen europäischer Sicherheit zu riskieren?
  • Diesem Dilemma ist auf Dauer auch kaum durch Angebote zu entgehen, Russland könne bei der Raketenabwehr mit den USA und der NATO zusammenarbeiten. Alle Erfahrungen der Vergangenheit - von SDI bis zur BMD-Debatte unter George W. Bush - zeigen, dass solche Angebote kaum mehr als Werbe- und Lockangebote waren. Substanz werden sie auch künftig kaum bekommen, weil in den USA kaum Interesse besteht, einen so interessanten Markt mit Russland zu teilen oder Russland ernsthaft Einfluss auf und Einblick in die Technologie zu gewähren. Zudem müsste - damit ein solcher Schritt realistisch werden könnte - bei etlichen „neuen“ Mitgliedern der NATO noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, da sie jede engere Zusammenarbeit mit Russland bisher grundsätzlich ablehnen.
  • Ähnlich wie die in Europa stationierten substrategischen Nuklearwaffen bietet die Zukunft der Raketenabwehr vielerlei mögliche Anlässe zu innereuropäischem Streit, der Washington die Option zu einer Politik des „cherry picking“ in Verfolgung eigener Interessen gibt.
  • Konditionierungen wie „weitere nukleare Abrüstung in Europa wird nur möglich, wenn der Ausbau von Raketenabwehrfähigkeiten erfolgt“, sind für etliche europäische NATO-Staaten wenig akzeptabel und attraktiv.

Umgehen ließe sich ein Teil dieser Einwände theoretisch, wenn die NATO in der Raketenabwehr künftig eine begrenzte, nicht aber eine zentrale Aufgabenstellung sehen würde und - zumindest solange wie Länder wie der Iran noch nicht über Flugkörper großer oder interkontinentaler Reichweite verfügen - in der Abwehr von Flugkörpern strategischer Reichweite explizit keine Bündnisausgabe sehen würde.

Nicht umgehen lässt sich auf diesem Wege jedoch die grundsätzliche Notwendigkeit, über die Auswirkungen der Veränderungen im Abschreckungsdispositiv und deren Folgen für das Denken in Kategorien regionaler Abschreckungssysteme in Europa gründlich zu durchdenken. So muss zum Beispiel auch in diesem Kontext die Frage aufgeworfen werden, ob ein aus substrategischen und strategischen Nuklearwaffen sowie Raketenabwehrsystemen bestehendes Abschreckungsdispositiv wirksamer, glaubwürdiger und stabiler wäre, als ein Dispositiv, dass nur aus strategischen Nuklearwaffen und Raketenabwehrsystemen besteht. Offensichtlich ist jedenfalls, dass der Aufbau von Raketenabwehrsystemen – egal welcher Reichweite – in Europa zunächst einen Ausbau der regionalen militärischen Reaktionsmöglichkeiten darstellt.[24] Weiter kompliziert würde diese Abwägung, wenn sich Early-Intercept-Technologien als machbar erweisen, aber deren Stationierung in Europa erforderlich machen würde. Von schnellen, unzureichend durchdachten Schritten der Anpassung der NATO-Strategie an die veränderte U.S.-Strategie kann angesichts der Komplexität der Fragestellung nur abgeraten werden.

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Endnoten:


[zum Text] Frankreich schied über diesen Diskussionen aus der militärischen Integration der NATO aus und das Hauptquartier der Allianz zog von Paris nach Brüssel um.

[zum Text] Dieser Vergleich bezieht sich nur auf den Charakter der Veränderungen in der Nuklearstrategie der NATO. Natürlich kam den Nuklearwaffen in der NATO zahlenmäßig und im Blick auf deren Rolle während der 1960er und 1970er Jahre eine deutlich essentiellere Bedeutung für die Bündnisstrategie zu als heute.

[zum Text] Zum Vergleich: Die Atombombe, die Hiroshima zerstörte, besaß eine Sprengkraft von etwa 12,5 Kilotonnen.

[zum Text] Diese Frage wirft der NPR gar nicht erst auf, da es in Washington selbstverständlich ist, dass diese Entscheidung vom U.S.-Präsidenten getroffen würde, der dafür die Unterstützung seitens internationaler Organisationen suchen kann, aber nicht muss.

[zum Text] Das Risiko, das der Eindruck erweckt wird, die Nukleare Teilhabe „erhebe“ die nicht-nuklearen NATO-Staaten in einen dem Status eines Nuklearwaffenstaates ähnlicheren Zustand als alle anderen nicht-nuklearen Staaten, fördern auch einige andere Argumente, die wiederholt – gedankenlos oder mit Absicht – benutzt werden. So argumentierte der CDU-Abgeordnete von Klaeden 2008: Atomwaffen seien "wichtig für unsere Sicherheit, damit wir uns nicht erpressbar machen von anderen Nuklearstaaten". Allerdings müsse für die hierzulande gelagerten Atomwaffen das "Zwei-Schlüssel-Prinzip" gelten - nach dem diese nur mit Zustimmung der Bundesregierung eingesetzt werden dürften. (Vgl.: http://www.bits.de/public/unv_a/unv-300608.htm ). Vorschub leistet diesem Risiko auch das Argument, ein Abzug der substrategischen Waffen aus Europa würde „in der Allianz den Unterschied zwischen den nuklearen „Haves“ und Have Nots“ verschärfen.“ Vgl.: Oliver Thränert: NATO, Missile Defence and Extended Deterrence, in: Survival, Vol. 51, No.6, December 2009-January 2010, S.64

[zum Text] Deutscher Bundestag, DS 17/1159, vgl.: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/011/1701159.pdf

[zum Text] Rein theoretisch könnte eine Übernahme in das Strategische Konzept auch so erfolgen, dass nur die nuklearen Mitglieder der Allianz die Garantie in dieser Form abgeben. Allerdings wäre auch dann wohl mit heftigem Widerstand Frankreichs zu rechnen, das hier einen Eingriff in seine Souveränität fürchten müsste, seine Nuklearpolitik jederzeit selbst und alleine festzulegen. Dieser Einwand gilt für jede Form der Übernahme.

[zum Text] Beide Begriffe werden genannt, um keine Diskussion zu beginnen, ab wann ein Angriff, der einem geplanten gegnerischen Angriff vorausgeht, über das Recht der legitimen Selbstverteidigung nach Artikel 51 VN-Charta hinausgeht.

[zum Text] Einen wichtigen Teil der für solche Zwecke infragekommenden Trägersysteme – landgestützte Träger mit Reichweiten von 500-5.500 km - verbietet der INF-Vertrag aus dem Jahr 1987. Allerdings sind sowohl aus den USA als auch aus Russland wiederholt Stimmen laut geworden, die diesen Vertrag unter Verweis auf die Mittelstreckenraketenprogramme von Drittstaaten wie Iran, Pakistan, Indien oder China als einseitige Beschränkungen für Washington und Moskau kritisiert haben und deswegen wahlweise eine Multilateralisierung des INF-Vertrages oder dessen Aufkündigung gefordert haben. Die Auswirkungen auf die Diskussion über die „strategische Stabilität“ zwischen den USA und Russland wurden dabei jedoch meist nicht offensiv diskutiert oder kommuniziert.

[zum Text] Ausführlicher zu diesem Thema s.u.

[zum Text] Die aus der Bedrohung durch Russland abgeleiteten Argumente der neuen NATO-Mitglieder, mit denen sie in der Diskussion um die NATO-Strategie für eine größere Rolle der Bündnisverteidigung, eine enge Anbindung der USA und den Verbleib der substrategischen Nuklearwaffen in Europa werben, weisen auch andere Inkonsistenzen auf. So ist dem Autor z.B. nicht bekannt, dass diese Länder sich massiv für einen Erhalt des WEU-Vertrages (der am 31.3.2010 auslief) oder für eine Übernahme der rechtlich bindenden militärischen Beistandsverpflichtung aus diesem Vertrag in den Lissabonner EU-Vertrag eingesetzt hätten. Ihnen war die vorrangige Zuständigkeit der NATO für die europäische Sicherheit offensichtlich wichtiger - trotz der viel weicheren Beistandsverpflichtung in der NATO.

[zum Text] Der START-1-Vertrag und der Neue START-Vertrag illustrieren, was dies bedeuten kann: Im START-1-Vertrag wurden jedem strategischen Bomber, der Marschflugkörper tragen konnte, rechnerisch 10 Nuklearwaffen zugerechnet, unabhängig davon ob er real 6,12, 16 oder mehr dieser Waffen tragen konnte. Strategische Bomber, die atomare Bomben tragen sollten, wurden unabhängig davon, wie viele Bomben an Bord genommen werden konnten, als eine Nuklearwaffe gezählt. Der Neue START zählt alle strategischen Bomber unabhängig von ihrer Bewaffnung als je eine Waffe. Ein Vergleich der beiden Verträgen ergibt: Allein über die Zählweise können einige Hundert Nuklearwaffen „rechnerisch abgerüstet“ werden.

[zum Text] Der Zeitbedarf und die absehbaren Schwierigkeiten bei der Bearbeitung solchen Neulandes dürften die Präsidenten George H.W. Bush, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin Anfang der 1990er Jahre mit dazu veranlasst haben, die ersten großen Abrüstungsschritte im Bereich der taktischen bzw. substrategischen Nuklearwaffen auf Basis gegenseitiger, politisch verbindlicher Zusagen zu vereinbaren, die durch wechselseitig einseitige praktische Abrüstungsschritte umgesetzt wurden - die sogenannten Presidential Nuclear Initiatives (PNIs). Mittels dieser Initiativen wurden schon bald nach Ende des Kalten Krieges auf beiden Seiten viele Tausend nukleare Sprengköpfe aus dem aktiven Dienst entfernt und später schrittweise delaboriert.

[zum Text] Das politische Ziel, substrategische und nicht-stationierte Nuklearwaffen rüstungskontrollpolitisch zu erfassen und verifizierbar zu eliminieren, ist natürlich sinnvoll, da letztlich kein Bereich des nuklearen Dispositivs außerhalb der verifizierbaren Rüstungskontrolle verbleiben sollte. Das Problem besteht in der Verkopplung zum jetzigen Zeitpunkt und dem damit zu erwartenden Zeitverlust. Zu prüfen wäre deshalb, ob Initiativen ähnlich der PNIs nicht einen gangbaren und schnelleren Weg darstellen, der gegangen werden kann, während geeignete Verifikationsinstrumente erarbeitet werden.

[zum Text] Im NVV-Regime bedingen sich praktische Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung und bei der Stärkung der Nichtverbreitung de facto gegenseitig.

[zum Text] Im Kontext der Verbesserung der Sicherheit nuklearer Waffenlager durch eine zentralere Lagerung in weniger Depots könnte eine solche Entwicklung auch im Interesse Moskaus und deswegen partiell realisierbar sein. Allerdings wäre zu erwarten, dass Russland aus Kostengründen nur vorhandene Depots nutzt, in denen noch Platz ist oder durch Delaborierung alter Waffen Platz entsteht. Eine Redislozierung „hinter den Ural“ – wie manchmal im Westen vorgeschlagen – ist dagegen wahrscheinlich schon mangels geeigneten sicheren Depotraums und der Kosten kaum zu realisieren.

[zum Text] Wenn Russland nicht zur Abrüstung dieser Waffenkategorie bereit ist, wird die NATO modernisieren. Wenn Moskau abrüstet, modernisiert die NATO nicht. So lautete die Logik des Doppelbeschlusses zur NATO-Nachrüstung 1979. Ein solcher Ansatz, der bei Madeleine Albright, ihren Experten und Hillary Clinton anklingt, sollte sich schon deshalb verbieten, weil er wie ein Rückfall in Hochzeiten des Kalten Krieges anmutet.

[zum Text] Im Kontext des neuen START-Vertrages entsteht zunächst kein neues Problem. Strategische Bomber zählen als eine Waffe, unabhängig davon wieviele Bomben oder luftgestützte Marschflugkörper sie tragen. Allerdings kann sich ein gravierendes Problem entwickeln, sobald nicht nur Trägersysteme, sondern auch Nuklearwaffen Vertrags- und vor allem Verifikationsgegenstand werden. Dann wird eine realitätsnahe Zählweise für nukleare Bomben Pflicht oder dieser Waffentyp muss ganz verboten werden.

[zum Text] Zwei Indizien weisen in diese Richtung. Einerseits wehrt sich Frankreich vehement gegen eine starke Betonung der nuklearen Rüstungskontrolle, weil es fürchtet, so könne indirekt seitens der NATO in die französische Nuklearpolitik eingegriffen werden. Andererseits zeigt der Vorschlag der Expertengruppe unter Madeleine Albright, die „Special Consultative Group on Arms Control“ der NATO wieder einzurichten, dass die bündnisinternen Widersprüche weiterer Bearbeitung bedürfen. Deren Aufgabe soll es nämlich nicht nur sein, Abrüstungsinitiativen der Allianz zu entwickeln, sondern allgemeiner „den eigenen, internen Dialog [der NATO-Mitglieder] über die gesamte Breite der Themen Nukleardoktrin, neue Rüstungskontrollinitiativen und Proliferation“ zu ermöglichen.“ Der Vorschlag fußt auf der Annahme, dass die Diskussion über die Zukunft der nuklearen Abschreckung in der NATO nicht mit dem neuen Strategischen Konzept zum Abschluss gebracht werden kann.

[zum Text] Z.B. durch die Stationierung von Abfangraketen oder Aufklärungs- und Kommandoeinrichtungen auf europäischem Boden.

[zum Text] Vgl. Thränert, a.a.O.

[zum Text] BMDR, a.a.O. S.23ff

[zum Text] Die Militärdoktrin der Russischen Föderation betrachtet nicht alle, sondern explizit „strategische Raketenabwehrsysteme“ als sicherheitspolitische Gefahr. A.a.O.: S.10

[zum Text] Nur eine absolute Garantie, dass seitens der Nuklearmächte der NATO auf einen trotz Raketenabwehrversuch gelingenden regionalen Nuklearschlag eines Opponenten eine strategisch-nukleare Vergeltung erfolgt, könnte das umgehen. Eine solche Garantie würde jedoch erneut eine Debatte über die militärischen Fähigkeiten auslösen, die sie als glaubwürdig erscheinen lassen würden.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS