19. Mai 2001
Streitkräfte und Strategien, NDR info

 

Mehr als Raketenabwehr und Atomwaffen - Europa und das amerikanische Nachdenken über eine neue Abschreckung

 von Otfried Nassauer  

Abwarten und alle Optionen offen halten. Das scheint die Leitlinie der europäischen und vor allem der deutschen Reaktionen auf die amerikanischen Pläne für ein Raketenabwehrprogramm zu sein. Dahinter steckt ein einfaches Kalkül: Da sich abzeichne, dass die Regierung des neuen amerikanischen Präsidenten George W. Bush keinen kurzfristigen Ausstieg aus dem ABM-Vertrag plane und die technische Machbarkeit ohnehin ungeklärt sei, bedürfe es auch keiner schnellen deutschen Positionierung. Zudem habe die neue amerikanische Regierung Konsultationen versprochen. Eine konkrete deutsche Stellungnahme – so die Annahme – habe darum Zeit, bis die Details der neuen amerikanischen Planung vorlägen und auf ihre Auswirkungen hin untersucht worden seien.

Ivo Daalder, ehemaliger Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat und heute am Brookings Institut in Washington, sieht das ganz anders. Bei einem Vortrag im Folketing, dem dänischen Parlament, sagte er kürzlich: "Ich denke, Europa ist gerade dabei, einen großen Fehler von jener Art zu machen, wie sie Europa manchmal macht." Man gehe – so Daalder – von zwei falschen Voraussetzungen aus: Der Annahme nämlich, die Regierung Bush werde sich mit der Raketenverteidigung Zeit lassen und der Annahme, sie werde kooperativ vorgehen. Die richtige Zeit für eine europäische Stellungnahme sei jetzt. [Europäisches Schweigen werde in Washington als Signal dafür verstanden, dass es nur die Führung übernehmen müsse, dann würden die Alliierten schon folgen. Daalder riet darum dringend, Europa solle auf höchster Ebene und gemeinsam Stellung beziehen mit dem Tenor: 'Wenn Sie, Präsident Bush denken, Sie könnten mit dem ABM-Vertrag dasselbe machen wie mit dem Kyoto-Protokoll, dann irren Sie.']

Daalder könnte Recht haben und dennoch falsch liegen. Der Regierung Bush geht es nämlich um mehr als um Raketenabwehr und den ABM-Vertrag. Sie nimmt derzeit eine radikale Überprüfung der amerikanischen Sicherheitspolitik vor – die nach Anspruch und Umfang mit jener Neuorientierung verglichen werden kann, mit der Robert McNamara Anfang der sechziger Jahre den in der NATO höchst umstrittenen Wandel von der Strategie der massiven Vergeltung hin zur Strategie der flexiblen Antwort durchsetzte.

Die Vereinigten Staaten definieren ihre nationalen Interessen neu, überprüfen die Bedeutung von Regionen und Ressourcen anhand ihrer Interessen und fragen, welche militärischen Mittel und Strategien diesen am besten dienen. Der Prozeß verläuft strikt von oben nach unten, top to bottom, wie die Regierung Bush es nennt und mit großer Geschwindigkeit. Heilige Kühe gibt es dabei kaum. Details, konkrete Schritte und Entscheidungen stehen deshalb am Ende dieses Prozesses, nicht am Anfang.

Mit seiner ersten sicherheitspolitischen Rede am 1. Mai eröffnete Georg W. Bush diese Debatte über die Grundelemente von Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges. Bush hinterfragte darin das gültige Konzept der nuklearen Abschreckung und bezeichnete es als ergänzungsbedürftig. Die Abschreckung zwischen den Atommächen beruht bislang auf zwei Prinzipien: dem der gegenseitig gesicherten Vernichtung und der Verwundbarkeit. Zumindest im Umgang mit Staaten wie Nordkorea, Irak, Iran und vielleicht auch China, Indien und Pakistan soll nun das zweite Prinzip – das der gesicherten Verwundbarkeit – nicht mehr gelten. Potentielle Gegner und Besitzer von Massenvernichtungswaffen sollen vernichtend angegriffen werden können, ihrerseits die USA und deren Verbündete aber nicht angreifen können. Dazu soll der amerikanische Mix aus offensiven und defensiven Waffen dienen; Verbündeten und Freunden wird über regionale Raketenabwehrsysteme eine vergleichbare Strategie ermöglicht. Der Vorteil aus Sicht der USA: Amerika und seine Alliierten erhalten flexiblere, nicht durch Selbstabschreckung eingeengte Handlungsmöglichkeiten.

In der Logik dieser amerikanischen Überlegungen liegt es dann auch, äußerst skeptisch gegenüber vertraglich bindender Rüstungskontrolle zu sein. Präsident Bush will sich von den Beschränkungen des ABM-Vertrages lösen – mit russischem Einverständnis, wenn möglich, einseitig, wenn nötig. Die angestrebte Befreiung von den Beschränkungen des ABM-Vertrages soll so weit gehen, wie es für ein künftiges, umfassendes Raketenabwehrsystem erforderlich ist – und für eine weitergehende militärische Nutzung des Weltraums.

Zugleich deutete Bush erneut die Bereitschaft an, schnell und auch einseitig weitere drastische nukleare Abrüstungsschritte einzuleiten. Diese würden wahrscheinlich deutlich über die in START-2 vereinbarten und für START-3 vorgesehenen Einschnitte hinausgehen. Der altersbedingte, natürliche Zerfall großer Teile der russischen Nuklearstreitmacht macht einen solchen Schritt möglich. Doch je tiefer die Einschnitte ausfallen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie in einem dritten START-Vertrag rechtlich festgeschrieben werden. Für die Bush-Regierung hätte das zwei wesentliche Vorteile: zum einen, dass diese Abrüstungsmaßnahmen im Bedarfsfall zumindest teilweise rückgängig gemacht werden könnten und zum anderen, dass sie die Umstrukturierung ihrer Nuklearstreitkräfte auch dazu nutzen kann, ihr offensives Potential auf Risiko-Staaten wie Korea, Irak oder den Iran auszurichten.

Von dieser tiefgreifenden und langfristig angelegten Infragestellung der traditionellen Abschreckungs-, Rüstungskontroll- und Strategiepolitik zeigten sich die europäischen Partner der USA überrascht. Als Emissäre aus Washington den neuen Ansatz vergangene Woche erläuterten, vermißten die Gesprächspartner in Berlin, Paris oder London das Detail. Aus dem Fehlen konkreter Vorschläge jedoch zu folgern, dass die Regierung in den USA sich bei ihrer Planung Zeit lasse, wäre ein folgenschweres Mißverständnis. Diese wollte erst einmal in Erfahrung bringen, wie die Bündnispartner und einige wesentliche andere Staaten wie Rußland oder China reagieren, mit welchen Argumenten oder gar Gegenkonzepten. Die Details und konkreten Vorschläge kann die amerikanische Regierung dann sehr schnell nachreichen.

Das amerikanische Vorgehen zeigt sogar schon Erfolge. Es hat die skeptische Position in Berlin gegenüber den amerikanischen Plänen bereits entscheidend geschwächt: Zum einen durch die Entscheidung der USA, regionale und nationale Raketenverteidigungssysteme wieder als Gesamtkonzept zu diskutieren. Damit entzieht man den Europäern das Argument, Amerika könne sich von Europa oder Asien durch ein nationales System abkoppeln. Zum anderen daduch, dass die neue Administration offiziell Konsultationen anbietet. Das schwächt Argumente, die von der Furcht vor amerikanischem Unilateralismus bestimmt sind. Und schließlich bemüht sich Washington möglicherweise erfolgreich um einen Ausgleich mit Moskau – und sei es auch nur, weil Moskau aus einer Position der Schwäche für sich das Beste zu machen sucht.

Tatsächlich hat Bundeskanzler Gerhard Schröder die Position seiner Regierung selbst untergraben. So zuletzt, als er bei seinem Besuch in Washington am 29. März mit Präsident Bush eine gemeinsame Erklärung über die "Transatlantische Vision für das 21. Jahrhundert" abgegeben hat, in der es heißt: "Wir werden zusammen auf eine Strategie für die Ära nach dem Kalten Krieg hinarbeiten, die unsere gemeinsame Sicherheit erhöht, die eine angemessene Mischung offensiver und defensiver Systeme umfasst, den Abbau von Nuklearwaffen fortsetzt und Kontrollen hinsichtlich der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der Proliferation stärkt." Dieser Satz muß in Washington als Billigung der strategischen Grundsatzdebatte sowie der Grundsatzentscheidung für Raketenabwehrsysteme verstanden werden.

Hinzu kommt: Seit Herbst vergangenen Jahres wird in der NATO intensiv an Konzepten für die Abwehr von Flugkörpern mit Reichweiten zwischen 1000 und 3000 Kilometern gearbeitet. Etliche NATO-Staaten haben sie bereits in ihre nationalen Planungen aufgenommen – die Bundesrepublik in das neue Luftverteidigungskonzept der Bundeswehr. Nun soll die Industrie Möglichkeiten für eine Umsetzung dieser Konzepte ausarbeiten. Das verändert die transatlantische Diskussionsgrundlage zum Thema Raketenabwehr von grund auf. Bislang war lediglich geplant, Einsatzverbände im Ausland vor taktischen Gefechtsfeldraketen zu schützen. Wer aber, wie nun auch Deutschland und etliche andere NATO-Staaten über eine Heimatluftverteidigung gegen Raketen nachdenkt, kann kaum mehr glaubwürdig argumentieren, dass ausgerechnet die USA auf eine nationale Raketenabwehr verzichten sollen.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).