Streitkräfte und Strategien - NDR info
03. Juni 2005


Nach der Ablehnung der EU-Verfassung -
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik am Ende?

von Christopher Steinmetz


Mehrere Gründe sprechen dafür, dass die Ablehnung des Verfassungsvertrages für die Europäische Union bei den Volksabstimmungen in Frankreich und Holland dazu führt, dass sich die Vertiefung und wohl auch die Erweiterung der europäischen Integration zunächst verlangsamen werden. Der erste und offensichtlichste Grund besteht darin, dass der Verfassungsvertrag von den EU-Mitgliedern nicht mehr einstimmig gebilligt werden kann. Es sei denn, man ließe überall dort, wo es ein "Nein" gab, so lange abstimmen, bis das gewünschte "Ja" herauskommt. Der zweite Grund liegt in dem doppelten Schaden, den der deutsch-französische Motor Europas in den vergangenen Wochen erlitten hat. Frankreich hat den Vertrag abgelehnt. Präsident Chirac steckt in einer tiefen innenpolitischen Krise und muss die Regierung umbilden. Sein Augenmerk gilt deshalb vorerst der Innenpolitik. Gleiches gilt für Deutschland. Kanzler Schröder hat die Flucht nach vorn zu Neuwahlen angetreten und damit wohl einen Regierungswechsel eingeläutet. Auch das braucht Zeit. Ebenso wie die Teambildung zwischen den neuen Regierungen in beiden Ländern. Die Folge: Von Berlin und Paris sind in naher Zukunft kaum Impulse und Ideen für einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise zu erwarten. Der dritte Grund ergibt sich aus der nächsten EU-Präsidentschaft. Sie liegt bei den eher europa-skeptischen Briten. Dort plante Premierminister Blair bislang eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung. Diese will er nun vertagen, wenn nicht gar absagen. Möglich ist, dass Großbritannien seine EU-Präsidentschaft nutzt, um an entscheidenden Stellen auf die europäische Bremse zu treten.

Klar ist auch, dass diejenigen, die in der Sicherheitspolitik ganz auf die transatlantische Zusammenarbeit setzen, nun Morgenluft wittern. Sie sehen im sicherheitspolitischen Engagement der Europäischen Union eine eher unliebsame Konkurrenz zur NATO oder gar ein trojanisches Pferd französischer Bauart. Diese Atlantiker werden für eine Neubelebung des Bündnisses werben, einen eindeutigen Vorrang für die NATO fordern und einen größeren Schulterschluss mit den USA anregen. Das löst zwar nicht das strategische Grundproblem der transatlantischen Kooperation, klingt aber vertraut und wie ein Versprechen auf bessere Zeiten. Denn natürlich gilt auch künftig: Als politisch-militärisches Bündnis verfügt die NATO im Gegensatz zur EU nur über einen kleinen Teil jener Instrumente, mit denen Risiken der Zukunft wie dem Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder dem Problem zerfallender Staaten wirksam begegnet werden kann. Ein auf die politisch-militärische Ebene beschränkter transatlantischer Strategiedialog muss deshalb zu kurz greifen.

Schließlich ist klar, dass 2005 nicht 1954 ist. Das französische "Non" zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft hatte damals dazu beigetragen, dass sich die sicherheitspolitische Zusammenarbeit Europas über Jahrzehnte auf die NATO konzentrierte und die Europäische Gemeinschaft sich lange aus diesem Aufgabenfeld heraushielt. Ein so donnernder Nachhall ist nach mehr als 50 Jahren europäischer Integration und mehr als fünf Jahren Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik ESVP kaum denkbar. Mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza existieren rechtliche Grundlagen für die Außen- und Sicherheitspolitik Europas, die weiter gültig bleiben. Verlangsamt wird jetzt lediglich der nächste Schritt der Erweiterung dieses Bestandes. So wird die Europäische Union vorerst nicht wie geplant zu einem Rechtssubjekt, das selbständig internationale Verträge abschließen kann. Sie erhält auch vorläufig keinen gemeinsamen Außenminister. Die sicherheitspolitischen Institutionen der EU bleiben dagegen erhalten – ganz gleich ob es um den EU-Militärstab geht, die sicherheitspolitischen Entscheidungsgremien oder die Europäische Verteidigungsagentur. Deren weiterer Aus- und Aufbau wird nicht verhindert. Auch können neue Institutionen hinzukommen, wenn dies politisch gewollt wird. Der Aufbau der ESVP kann auch mit den bisher geschaffenen Instrumenten weiter vorangetrieben werden – wenn auch mit mehr Aufwand und größeren Reibungsverlusten. Es wird also keineswegs das schnelle Ende der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eingeläutet.

Wie aber sehen die USA jetzt die Zukunft der ESVP? Im Weißen Haus dürfte das französische Abstimmungsergebnis mit einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kenntnis genommen worden sein. Vizepräsident Cheney, ein Geopolitiker und außenpolitischer Falke, dürfte zu jenen gehören, die sich ins Fäustchen gelacht haben: Europa, das er bereits seit 1993 als – noch – freundlichen Konkurrenten der USA einstuft, hat einen gewaltigen Dämpfer bekommen. Doch es gibt auch eine andere Sichtweise: Was wäre, wenn das Europäische Projekt auf Dauer geschwächt würde? Dann wären auch zentrale Interessen der USA berührt. Denn Washington braucht Europa als Partner, zumindest als handlungsfähigen Juniorpartner. Die Regierung Bush weiß, dass sie nicht alle globalen Probleme mit eigenen Ressourcen lösen kann. Ein zu schwaches Europa ist genauso wenig im Interesse der USA wie ein zu eigenständiges Europa. Das zeigt sich am Beispiel der Türkei: Die USA wünschen, dass die EU der Türkei die Mitgliedschaft eröffnet. Dies wäre aus Sicht der USA ein wesentlicher Beitrag zum Stabilitätsexport. Verlangsamen sich aber Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Integration, so rückt dieses Ziel in größere Ferne. Das wäre nicht im Interesse der USA. Deshalb ist damit zu rechnen, dass in den USA jetzt, nachdem sich Europa selbst ein Bein gestellt hat, die Stimmen lauter werden, die eine Stärkung der Handlungsfähigkeit Europas fordern. Befürchtungen, Europa könnte zu schnell zu eigenständig agieren, treten dagegen voraussichtlich etwas stärker in den Hintergrund.

Für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist also künftig sowohl mit weniger Rückenwind als auch mit weniger Gegenwind zu rechnen. Denn das Spannungsfeld, in dem sie entwickelt wird, bleibt auch künftig von den gleichen Kräften gekennzeichnet wie in der Vergangenheit. Der Fortschritt wird sich vorübergehend verlangsamen, bis ein Weg aus der Sackgasse gefunden worden ist.

Zurzeit ist schwer vorherzusagen, wie dieser Weg aussehen wird. Noch scheint man in Brüssel abzuwarten, ob nur einige Staaten den Verfassungsvertrag ablehnen. Dann könnten – so die Hoffnung - die Neinsager mit der Drohung, den Schwarzen Peter für das Scheitern zu behalten, erneut an die Urnen gerufen werden. Doch auch andere Wege – zum Beispiel die Wiederbelebung der Debatte über neue EU-Verträge – wären möglich. Gleichgültig, welche Lösung angestrebt wird: Einige Lehren aus dem bisherigen Prozess sollten zuvor gezogen werden. Der Verfassungsvertrag mag den politischen Eliten in der EU gut vermittelbar sein, für die Bevölkerungen gilt das nicht. Dies liegt nicht nur an der Komplexität des Vertrages, sondern auch daran, dass Menschen sich unter einer Verfassung etwas anderes vorstellen als – zynisch formuliert – die Häufelung von Menschen- und Bürgerrechten sowie exekutiven Ermächtigungen und teilweise auch seltsam anmutenden politischen Zielstellungen. Der Vertrag vermittelt den Bürgern kein Mehr an demokratischer Beteiligung. Er vermittelt das Entschwinden der politischen Kontrolle in undurchsichtige Brüsseler Bürokratien. Dieser Eindruck ist zwar so nicht richtig, wird aber von den nationalen Administrationen gern hingenommen. Denn der Vertrag stärkt letztlich nicht die vergemeinschafteten Brüsseler Institutionen, sondern die Exekutive der Nationen, deren Eifersüchteleien und deren Kooperation auf Regierungsebene.

Die Pause, vor der die Vertiefung der Zusammenarbeit Europas nun steht, kann deshalb auch positiv als Atem- und Denkpause betrachtet werden. Wenn sie zu Ende geht, dürfte sich in vielen EU-Staaten bereits das Bewusstsein der Notwendigkeit raschen Fortschritts zu mehr Handlungsfähigkeit durchgesetzt haben. Fortschritte wären dann leichter zu erzielen – vorausgesetzt, die Lehren aus der Debatte um den Verfassungsvertrag werden gezogen.


 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BITS und als freier Journalist tätig.