Streitkräfte und Strategien - NDR info
13. Februar 2010

Kurzfassung


Augenwischerei? – Deutschlands neue Rolle in Afghanistan

von Otfried Nassauer

Rund zwei Wochen nach der Afghanistan-Konferenz in London hat jetzt auch die Bundesregierung beschlossen wie es mit dem deutschen Engagement am Hindukusch weitergehen soll. Bis zu 850 zusätzliche Soldaten, mehr Ausbilder und mehr Geld soll es geben. Damit wird umgesetzt, was in einem Ende Januar verabschiedeten Strategiepapier der Regierung steht: „Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung“ – so lautet der sperrige und vieldeutige Titel.

Die neue Strategie soll eine neue Perspektive eröffnen. Verteidigungsminister zu Guttenberg:

O-Ton zu Guttenberg
„Der Ansatz der Bundesregierung enthält einen wirklichen Strategiewechsel. Einen Strategiewechsel dahingehend, dass wir mit diesem Wechsel auch eine glaubhafte Abzugsperspektive eröffnen wollen.“

Fast zehn Jahre nach dem Beginn der Afghanistan-Operation soll der Einstieg in den Ausstieg eingeläutet werden. Die neue Strategie zielt ab auf einen Abzug ohne Gesichtsverlust.

Eine Garantie, dass der neue Ansatz Erfolg haben wird, gibt es allerdings nicht. Es kann sie nicht geben. Schon deshalb nicht, weil es Präsident Karzai nach seiner zweifelhaften Wiederwahl an der notwendigen Legitimation mangelt. Aber auch, weil keineswegs sicher ist, dass mehr Sicherheitskräfte mehr Sicherheit schaffen werden.

Mit Stanley McChrystal hat Washington im Sommer jedoch einen ISAF-Befehlshaber nach Afghanistan entsandt, der erstmals fast alle Truppen im Land aus einer Hand führen darf. Außerdem hat der US-General eine klare Vorstellung darüber, wie er vorgehen will: Während der Anhörung im Kongress vor seiner Berufung stellte er im Juni seine Prioritäten vor: Erstens gehe es darum, die Bevölkerung vor Druck und Erpressung durch die Aufständischen zu schützen. Dazu müsse man die Taliban wo immer möglich vertreiben und so von der örtlichen Bevölkerung trennen. Zweitens müsse die Arbeit der afghanischen Regierung auf allen Ebenen verbessert werden. Nur so könne sie an Legitimität gewinnen. Und drittens gelte es, die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte – Polizei und Militär – zu verbessern. Dazu müsse auch die Kommandostruktur des internationalen Einsatzes in Afghanistan verändert werden.

Das ist inzwischen geschehen: Ein neuer Stab in Kabul, das ISAF Joint Command, geleitet von dem amerikanischen General David Rodriguez, führt alle Operationen der Sicherheitskräfte in allen Regionalkommandos. Operationen der US-Kräfte, die zur Anti-Terror-Operation Enduring Freedom OEF gehören und ISAF nicht unterstehen, koordiniert Rodriguez als Stellvertretender Kommandeur aller US-Streitkräfte in Afghanistan. Wie McChrystal, der zugleich ISAF-Chef und Befehlshaber der US-Truppen ist, trägt auch Rodriguez zwei Hüte: Einen, der ihm Befehlsgewalt über die ISAF-Truppen gibt und einen, der es ihm erlaubt, den US–Verbänden der OEF Einsatzbefehle zu erteilen. McChrystal will auf diesem Weg schrittweise von einer geographisch regionalen zu einer funktionalen Führungsstruktur für ganz Afghanistan kommen. Damit aber wird die Rolle der regionalen Befehlshaber etwa im Norden und Süden des Landes relativiert. Der ISAF-Befehlshaber in Kabul will dafür sorgen, dass die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte landesweit unter einheitlichem Befehl erfolgt. Das gilt auch für die Führung von Operationen zur Schwächung der Taliban und zur Sicherung von Schlüsseldistrikten.
Für den Norden Afghanistans, in dem die Bundeswehr den Regionalkommandeur stellt, hat der neue Ansatz Folgen. Das Bundeswehrkontingent wird umgegliedert und um rund 500 Soldaten vergrößert. Statt 280 Bundeswehrsoldaten sollen sich künftig 1.400 Soldaten um die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte kümmern und die Afghanen auch im Einsatz begleiten. Distrikt für Distrikt sollen so die Taliban-Kämpfer aus acht Schlüsseldistrikten verdrängt werden. Der Bevölkerung dort will man dann dauerhaft Schutz vor der Rückkehr der Aufständischen gewähren. Verstärkte Wiederaufbaumaßnahmen sollen dieses Vorgehen absichern. Letztlich will die Bundeswehr den afghanischen Kräften die Zuständigkeit für die örtliche Sicherheit übergeben. Auch die Schnelle Eingreiftruppe der Bundeswehr im Norden, die QRF, soll in diese Umgliederung einbezogen werden. Verteidigungsminister zu Guttenberg:

O-Ton zu Guttenberg
„Die Quick Reaction Force wird es nicht mehr geben, so wie es sie gab, sondern die Quick Reaction Force wird in ihrem Auftrag aufgelöst und gerade da finden die Umstrukturierungen statt. ... Mit einem gewissen Aufwuchs werden die Ausbildungs- und Schutzkomponenten herausgebildet.“

Und der neue Generalinspekteur Volker Wieker ergänzt, man wolle

O-Ton Wieker
„die QRF heranziehen, um in Verbindung mit den bereits vorhandenen Sicherungskräften zwei Ausbildungs- und Schutzbataillone aufzustellen. Ein drittes wird gestellt ... durch die Skandinavier im Westen, so dass dann drei Ausbildungs- und Schutzbataillone zur Verfügung stehen, die mit den drei Brigaden des 209. ANA-Korps ‚partnern‘ können.“

‚Partnern‘, das heißt, Bundeswehreinheiten begleiten die Afghanen bei ihren Missionen. Für die Bundesregierung ist das ein Kurswechsel. In dem verabschiedeten Strategiepapier heißt es - Zitat:

Zitat
„Dadurch erfolgt eine Schwerpunktverlagerung von dem gegenwärtig eher offensiven Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz.“

„Grundsätzlich defensive Ausrichtung“ – das klingt beruhigend, zielt aber wohl vor allem darauf ab, skeptische Abgeordnete der Regierungsfraktionen und der Opposition dafür zu gewinnen, den Einsatz in Afghanistan weiter mitzutragen. Doch mit dieser Argumentation werden das Parlament und auch die Öffentlichkeit teilweise in die Irre geführt.

Erstens ist nicht zu erwarten, dass die Taliban widerstandslos abziehen werden, wenn die afghanischen Bataillone mit ihren deutschen Begleitern anrücken. Im Gegenteil: Da sie dauerhaft vertrieben werden sollen, werden sie vermutlich versuchen, den Vormarsch der afghanischen und deutschen Sicherheitskräfte in bisher nicht kontrollierte Distrikte verlustreich und teuer zu machen. Möglicherweise werden sie aber auch in andere Regionen ausweichen und dort für Unruhe sorgen. Der erste Schritt zur künftigen Präsenz in der Fläche wird daher wohl des Öfteren mit offensiven Operationen einhergehen. Dafür könnte dann aber ein deutlich größerer Teil des deutschen Kontingents erforderlich sein als bei den bisherigen, zeitlich begrenzten Offensiven.

Zweitens argumentiert die Bundesregierung in ihrem Strategiepapier vom Januar so, als sei die Bundeswehr künftig weiterhin allein für die Sicherheit im Norden Afghanistans zuständig. Das stimmt schon heute nicht und in Zukunft gilt es noch weniger. In Nordafghanistan sollen künftig bis zu 5.000 US-Soldaten stationiert werden. Etwa so viele wie auch die Bundeswehr dort hat. Ein Teil soll sich um die Ausbildung sowie um gemeinsame Einsätze mit der afghanischen Polizei und der Grenzpolizei kümmern und ebenfalls Schlüsseldistrikte sichern. Vorgesehene Standorte sind in Kundus, Mazar i Scharif, Maymaneh, Ghormach, Sheberghan, Pole Khomri und Taloqan. Zu den US-Verstärkungen für den Norden wird auch eine Combat Aviation Brigade mit Transport- und Kampfhubschraubern gehören. Die endgültige Zusammensetzung der US-Truppe steht derzeit noch nicht fest. Sie hängt davon ab, wie groß der Bedarf an US-Kräften sein wird, die die Taliban aus Gebieten verdrängen sollen, in denen sie relativ stark sind. Die Bundeswehr geht derzeit noch davon aus, dass die Aufgaben der deutschen QRF nicht von US-Kräften übernommen werden müssen. Der Gouverneur von Kundus sieht dies sicher anders, da er sich die Präsenz einer möglichst großen, hart agierenden Kampftruppe wünscht.

Die US-Kräfte sollen dem deutschen Kommandeur des Regionalkommandos taktisch unterstellt werden. Eine erweiterte gemeinsame Operationszentrale in Mazari-Scharif soll sie führen. Die bedeutsamere operative Befehlsgewalt, die sogenannte Operational Control, liegt allerdings in Kabul bei General Rodriguez und seinem ISAF Joint Command. Der US-General erteilt dem deutschen Regionalkommandeur die Einsatzbefehle, die dieser umsetzen oder weiterleiten muss.

US-Kräfte, die zur Operation Enduring Freedom gehören und Spezialkräfte, die zur Jagd auf wichtige Taliban-Gruppen oder Al-Qaida-Kämpfer im Norden eingesetzt werden, bleiben auch künftig unter nationalem US-Kommando. Ihre Einsätze werden mit dem Regionalkommando im Norden nur koordiniert, damit man sich nicht in die Quere kommt. Geleistet wird die Koordination durch US-General Rodriguez.

Das Bild der ISAF-Truppen im Norden wird also künftig nicht mehr vorrangig vom Auftreten der Bundeswehr geprägt. Die defensive Neuausrichtung bedeutet nicht zwangsläufig weniger Gefechte und Kämpfe. Ebenso großen Einfluss wird das Auftreten der US-Truppen haben. Die Fähigkeit zu offensiven Operationen wird durch die US-Kräfte wahrscheinlich erheblich vergrößert. Ob die verstärkte Einbindung afghanischer Sicherheitskräfte in die Operationen auf Distrikt-Ebene den gewünschten Effekt eines „afghanischen Gesichtes“ haben wird, bleibt abzuwarten. Und offen bleibt auch, ob die neue Afghanistan-Strategie tatsächlich eine glaubhafte Abzugs-Perspektive eröffnet.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS