Streitkräfte und Strategien - NDR info
17. Oktober 2009


Aus alt mach neu
Raketenabwehrpläne der USA

von Otfried Nassauer

Westeuropa atmete hörbar auf, als U.S.- Präsident Barack Obama am 17. September bekannt gab, seine Regierung verzichte auf die Stationierung des umstrittenen Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik. Obama bekam breite Zustimmung. Angela Merkel sah in seinem Schritt ein - Zitat „hoffnungsvolles Signal, die Schwierigkeiten mit Russland zu überwinden.“ Außenminister Steinmeier begrüßte die Gelegenheit – Zitat – „das Thema Raketenabwehr in Europa noch einmal mit allen Partnern neu zu diskutieren.“ Auch die russische Regierung reagierte positiv.

In der allgemeinen Erleichterung ging der zweite Teil von Obamas Entscheidung weitgehend unter: Der US-Präsident kündigte an, er werde die bisherige Planung für eine Raketenabwehr in Europa durch eine neue ersetzen. Wie aber sieht diese neue Planung aus?

Ausgangspunkt war eine Neubewertung der iranischen Raketenprogramme. Der Iran mache große Fortschritte bei der Entwicklung von Kurz- und Mittelstreckenraketen. In absehbarer Zukunft könnten diese eine konkrete Bedrohung für US-Truppen und Alliierte im Nahen und Mittleren Osten sowie in Südosteuropa werden. Interkontinentalraketen dagegen, die das amerikanische Festland erreichen könnten, seien Zukunftsmusik. So die neue Einschätzung.

Aufgrund dieser Analyse entschied sich Obama, den Schwerpunkt der amerikanischen Planung für die Raketenabwehr in Europa zu verlagern. Seine Regierung will zunächst Abwehrsysteme gegen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite aufstellen. Zugleich will sie sich die Möglichkeit bewahren, auf überraschende Fortschritte des Irans bei der Entwicklung von Langstreckenraketen flexibel zu reagieren.

Das heißt konkret: In einem ersten Schritt sollen ab 2011 Abfangsysteme auf Kriegsschiffen mit dem AEGIS-System, der neuen Abfangrakete SM-3 und mit Hilfe des landgestützten mobilen Radarsystems AN/TPY-2 im Mittelmeerraum sowie im Nahen Osten und Mittleren Osten stationiert werden. Dabei gehe es um erfolgreich getestete Systeme, die Raketen mit Reichweiten von bis zu 2000 Kilometern abfangen können.

In einem zweiten Schritt sollen ab etwa 2015 eine leistungsstärkere Version der Abfangrakete SM-3 und bessere Aufklärungssensoren hinzukommen. Damit soll der Raum vergrößert werden, der gegen anfliegende Raketen geschützt werden kann. Neben die seegestützte Version der SM-3 soll eine landgestützte, verlegbare Variante treten. Schrittweise soll ein Schutz für alle NATO-Länder in Europa entstehen.

In weiteren Phasen soll ab 2018 eine neue Version der Abfangrakete SM-3 eingeführt werden, die derzeit entwickelt wird. Sie soll auch Raketen großer Reichweite und sogar Interkontinentalraketen bekämpfen können.

Die neue Planung sei nicht nur besser an die Bedrohungsentwicklung angepasst, flexibler und kostengünstiger. Sie erlaube auch eine viel intensivere Zusammenarbeit mit den Verbündeten in der NATO und mit Russland, heißt es in Washington. Zudem ermöglicht sie eine bessere Koordination mit anderen landgestützten Abfangsystemen für Kurz- und Mittelstreckenraketen wie zum Beispiel Patriot und THAAD.

Zweifelsohne: Das Argument trifft zu. In der NATO wird unter dem Kürzel ALTBMD an einer integrierten Aufklärungs- und Führungsstruktur für eine Raketenabwehr gearbeitet. Sie soll eine Vielzahl nationaler Projekte und Vorhaben integrieren. Auch hier liegt der Schwerpunkt bei den Abwehrmöglichkeiten gegen Raketen mit Reichweiten von bis zu 3.000 Kilometern. Dazu passt Obamas neue Schwerpunktsetzung gut. Vielen Staaten können mitwirken und die Stationierung landgestützter SM-3-Raketen oder verlegbarer Radare auf ihrem Territorium zulassen.. Das gilt auch für Staaten außerhalb der NATO. In Israel steht zum Beispiel bereits seit 2008 ein solches Radar. Länder wie die Ukraine oder Georgien haben Interesse an einer Stationierung geäußert. Selbst Russland könnte über eigene Radarsysteme eingebunden werden.

Doch was auf den ersten Blick viele unterschiedliche Interessen gut bedient, hat auch seine Haken. Das wurde deutlich, als Obamas Regierung auf die Enttäuschung reagieren musste, die ihre Entscheidung in Polen und Tschechien hervorrief. Beide Länder hatten sich von den Raketenabwehrsystemen US-Truppen im eigenen Land, deutlich mehr Einfluss in der NATO und vor allem eine langfristige Festlegung versprochen, dass die NATO weiter gegen Russland ausgerichtet bleibe. Nun fühlten sie sich von Obama im Stich gelassen.

Washington bemühte sich rasch, die Enttäuschung zu begrenzen. Dabei zeigte sich, dass auch die neue Planung ein zweischneidiges Schwert werden kann. Ellen Tauscher, die stellvertretende Außenministerin für Rüstungskontrolle und Internationale Sicherheitspolitik, bestätigte am 7. Oktober, dass auch die neuen Pläne die Aufstellung von Abfangraketen in Polen erlauben. Die US-Regierung habe Polen bereits angeboten, landgestützter SM-3 Raketen zu stationieren und eine Änderung des Stationierungsvertrages vorgeschlagen. Der Tschechischen Republik sei angeboten worden, das Hauptquartier für Raketenabwehr dort einzurichten. Generalleutnant o’ Reilly, der Chef der Raketenabwehragentur, wies darauf hin, dass man für den Preis der bisher geplanten 10 Abfangraketen jetzt bis zu 70 der neuen Abfangflugkörper kaufen könne.

Das wirft die Frage auf, ob die neue Planung Russland auch auf längere Sicht beruhigen kann? Kurzfristig ist es gewährleistet, weil ein Abwehrsystem gegen Mittelstreckenraketen Russlands nukleare Abschreckung nicht ernsthaft gefährden kann. Doch mittelfristig ändert sich das Bild: Sollten ab 2020 leistungsgesteigerte SM-3-Raketen stationiert werden, die auch Langstreckenraketen abfangen können, so droht aufs Neue die kontroverse Debatte der letzten Jahre. Zudem zeigen die Planungsdokumente der US-Raketenabwehragentur, dass die Entwicklung der bislang in Polen geplanten zweistufigen Abfangrakete nicht gestoppt wird. Sie soll als Rückfalloption zur Verfügung stehen, falls technische Probleme bei der Umsetzung der neuen Planung auftreten. Im Herbst 2010 soll sie erstmals getestet werden.

Kritiker der Raketenabwehr in den USA weisen zudem darauf hin, dass auch Obamas Plan für die Raketenabwehr in Europa technische Risiken birgt und keinen glaubwürdigen Schutz garantiert. Ähnlich wie das von George W. Bush geplante Raketenabwehrsystem seien die Abfangraketen vom Typ SM-3 noch nie unter realitätsnahen Bedingungen gegen angreifende Raketen mit Täuschkörpern getestet worden.

Auf die Bundesregierung kommt darüber hinaus ein Problem besonderer Art zu. Washington will Israel in die Raketenabwehr für Europa einbinden. Die schon erwähnte Stationierung eines Radars und die Zusammenarbeit bei Israels Raketenabwehrsystem Arrow 2 machen das deutlich. Israel will dabei eigenen Fähigkeiten einbringen und diese künftig noch erweitern. Es plant deshalb den Bau von zwei großen Korvetten, die über ein Radar verfügen sollen, dass zur Raketenabwehr fähig sein soll. In die Schiffe soll auch ein Senkrechtstarter für Flugkörper integriert werden, der von der US-Marine zum Verschuss von SM-3-Raketen genutzt wird. Die Schiffe sollen bei der Hamburger Werft Blohm & Voss konzipiert werden. Ihre Beschaffung hat hohe Priorität, aber Israel fehlt das nötige Geld, um sie zu finanzieren. Es dürfte deshalb nur eine Frage der Zeit sein, bis die Bundesregierung vor einer altbekannten Frage steht: Ist sie bereit, Israel wie bei den Dolphin-U-Booten mit Geld aus dem Bundeshaushalt unter die Arme zu greifen?


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS