Das Kreuz mit der Diaspora
Geschrieben am 09.04.2003 um 23.15 Uhr / von Otfried Nassauer


Haben Sie schon einmal von der „Irakischen Koalition für Nationale Einheit“ (Iraqi Coalition for National Unity, ICNU) gehört? Nein? Trösten Sie sich, auch für Kenner der Region war diese Organisation bis vor wenigen Tagen ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Im Irak kannte sie überhaupt niemand. Nun aber schafft sie sich dort binnen weniger Tage ihren ganz eigenen Ruf. Die Kenntnis darüber verdanken wir der Financial Times.

Die ICNU ist eine irakische Oppositions-Miliz. Vergangene Woche tauchte sie erstmals in Nadschaf auf, jener mehrheitlich schiitischen Stadt auf dem Wege vom Südirak nach Bagdad, um die es so heftige, von den Medien beachtete Kämpfe gab. Die Milizionäre kamen mit Fahrzeugen amerikanischer Special Forces. Sie sind die ersten (para)militärischen exil-irakischen Kräfte, die im Tross der US-Armee im Irak tätig werden. Kaum in ihrem Einsatzgebiet haben sie bereits soviel Ärger verursacht, dass selbst andere von der CIA und den Special Forces mitgebrachte Exil-Iraker zugeben müssen, die Miliz sei außer Kontrolle geraten. Der Vorwurf an die Milizionäre: Massive Plünderungen, Diebstähle und das Terrorisieren der Zivilbevölkerung. Der Chef der Milizionäre - ein ehemaliger Artillerie-Oberst der irakischen Armee - hat sich zum Interimsbürgermeister der Stadt erklärt, obwohl für die meisten Menschen in Nadschaf Großajatollah Alis Sistani die einzig anerkannte Autorität ist. Die Milizionäre argumentieren, dass sie lediglich versuchen, Kollaborateure des Saddam-Regimes zu verhaften: Die Vorwürfe gegen sie seien „von religiösen Extremisten fabriziert“.

Dieses Miniaturbild aus Nadschaf könnte sehr wohl ein Vorbote für die Art der Probleme sein, die sich ergeben werden, wenn die US-Truppen versuchen, neue zivile Regierungsstrukturen aufzubauen, in denen Exil-Iraker entscheidende oder entscheidend beratende Rollen spielen. Die irakischen Oppositionsgruppen im Exil, die Washingtons neokonservative Republikaner über Jahre gehegt und gepflegt haben, sind allesamt innerhalb des Iraks unbekannte Größen. Viele ihrer Mitglieder sind emigriert bevor die Baath-Partei an die Macht kam, andere haben den Irak über die Jahrzehnte verlassen, nachdem sie sich mit Saddam und seiner politischen Linie überworfen haben. Zudem haben viele wichtige Personen aus den Kreisen des Irakischen Nationalkongresses in der arabischen Welt einen mehr als zweifelhaften Ruf. Erweisen sich die Milizen aus Sicht der im Irak lebenden Iraker als organisierte bewaffnete Kriminelle, so herrscht im Blick auf die neuen exilirakischen Herrscher die Befürchtung, es könne sich um mit westlichen beziehungsweise vornehmlich amerikanischen Industrieinteressen verbandelte, organisierte Großkriminelle handeln, deren Ziel ebenso die Selbstbereicherung sein scheine.

Auch das ist eine wichtige Facette der Diskussion über die künftige Verteilung der Entscheidungsgewalt, der realen Macht und der Kontrolle über die Ressourcen des Iraks.

 

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