11. Februar 2003
NDR info, Interview


Wutgeheul der Amerikaner gegen altes europäisches Selbstbewusstsein

 NDR info Interview mit Otfried Nassauer  


Die Empörung der Amerikaner ist maßlos. Worte wie "unentschuldbar" und "wirklich schändlich" kommen aus Washington. Belgien, Frankreich und Deutschland hatten sich in der NATO quer gelegt, wollten nicht quasi schon mal vorbeugend für alle Fälle Schutzmaßnahmen für die Türkei im Falle eines Irak-Krieges zusagen. Sie legen die Axt an die Wurzel der NATO an, hatte der Ex-Bundeswehrchef Klaus Naumann gesagt. Fragen dazu an den Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), Ottfried Nassauer.


NDR Info: Herr Nassauer, sehen Sie das auch so?

Nassauer: Nein, das sehe ich im Prinzip genau umgekehrt. Es ist so, dass die NATO gestern eine sehr, sehr seltsame Sitzung erlebt hat. Auf der einen Seite ist der Türkei indirekt genau das zusagt worden, was die Türkei wollte, nämlich auf der einen Seite: Sie hat ihre sicherheitspolitischen Konsultationen über eine potentielle Bedrohung bei einer weiteren Eskalation bekommen. Sie hat dann, nicht in der NATO aber trilateral mit Deutschland und Holland, die Zusage bekommen, dass Patriot-Raketen stationiert werden. Was ich verstehen kann, das ist, dass die Vereinigten Staaten sich so ärgern. Sie wollten nämlich den Fall Türkei benutzen, um ihre gesamte Unterstützungsforderung an die NATO für einen Krieg gegen den Irak jetzt durchzudrücken, zu einem jetzigen Zeitpunkt. Und die Verärgerung resultiert daraus, dass der Wunsch der USA abgelehnt worden ist, aber gleichzeitig die Wünsche der Türkei berücksichtigt worden sind, beziehungsweise der Türkei das Signal gegeben worden ist, dass diese Wünsche berücksichtigt werden.

NDR Info: Das heißt, die Türkei kann eigentlich ganz zufrieden sein: Die haben bekommen, sagen Sie, was sie wollten – eigentlich?

Nassauer: Sie haben bekommen, was sie zum jetzigen Zeitpunkt wollten, das ist exakt richtig. Sie haben noch nicht das bekommen, was sie vielleicht in Zukunft zusätzlich noch brauchen werden. Das ist aber aus Sicht von Ankara auch jetzt gar nicht so geschickt das einzuklagen und einzufordern, weil die Türkei ja selber noch nicht beschlossen hat, dass amerikanische Kampftruppen auf türkischen Boden stationiert werden dürfen. Erst dann, wenn das in der Türkei beschlossen werden würde, wenn das ausgehandelt wäre, wenn die Bedingungen dafür klar wären, dann würde die Türkei möglicherweise noch zusätzliche Anforderungen haben.

NDR Info: Also, um es mal klar zu kriegen: Das Veto bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass Belgien, Frankreich und Berlin sagen, "wir geben euch jetzt kein Plazet für einen Krieg. Das würden wir tun, wenn wir das so beschließen würden"?

Nassauer: Genau das ist richtig. Es ist ein Veto gegen den amerikanischen Zeitplan, aber nicht gegen türkische Unterstützungsbitten.

NDR Info: Wenn wir jetzt mal die Wut der Amerikaner nehmen, zeigt sich da Ihrer Meinung nach so etwas wie ein neues europäisches Selbstverständnis, die NATO eben nicht mehr zu akzeptieren, als, ich sage mal, Vollzugsorgan der Amerikaner?

Nassauer: Umgekehrt: Da zeigt sich das alte europäische Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein, dass die NATO eines der Instrumente ist, mit denen man transatlantisch gemeinsam Politik macht, und in dem es nicht darum geht, dass man Erfüllungsgehilfe der Führungsmacht ist. Das wäre vielleicht die Vorstellung gewesen, die Washington jetzt gehabt hätte. Dieses ist nicht eingetreten, dem ist widersprochen worden. Und gerade deswegen auch, ich sag‘ mal, das Wutgeheul.

NDR Info: Nun sagt Washington, "wir ziehen das notfalls auch ohne euch, ohne die NATO durch." Wird Ihrer Ansicht nach durch diesen Affront gegen die USA die Rolle Europas eher geschwächt oder vielleicht sogar gestärkt?

Nassauer: Das lässt sich Moment noch nicht sagen, und zwar hängt das natürlich sehr stark davon ab, ob die Europäer hier mit einer einheitlichen Stimme sprechen würden. Das tun sie voraussichtlich nicht, weil einige der europäischen Staaten lieber dem amerikanischen Führungsanspruch, auch im Blick auf eine schnelle Eskalation am Golf, gefolgt wären. Und insofern lässt sich das schwer vorhersagen. Aber im Prinzip ist das Signal, das hier gegeben worden ist: Die NATO kann nicht instrumentalisiert werden um amerikanische Politik sozusagen ohne Diskussion und ohne Mitspracherecht der Europäer zu realisieren. Und das ist ein wichtiges Signal, weil dass natürlich auch ein wichtiges Signal für den zukünftigen Charakter der NATO ist.

NDR Info: Wird die NATO das überleben Ihrer Ansicht nach?

Nassauer: Ziemlich sicher, sie hat schon ganz viele andere Krisen überlebt. Und ich sag‘ mal so: Wenn jetzt keiner einschnappt, dann wird dabei sogar am Ende eine politische Lösung herauskommen, die vernünftig ist für die Interessen beider Seiten, diesseits und jenseits des Atlantiks.