Landeszeitung - Interview
23. März 2007


Schutzschild soll US-Dominanz sichern

Washingtons Raketenabwehrprojekt kann die NATO spalten

Interview mit Otfried Nassauer

Ein Rüstungsprojekt sorgt für Zwist: Die USA wollen ein Raketenabwehrsystem installieren, um sich vor nordkoreanischen oder iranischen Atomraketen zu schützen. Die technologische Herausforderung ist enorm: Eine Rakete abzufangen entspricht dem Versuch, eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel zu treffen. Europa zeigt sich gespalten. Ebenso die große Koalition in Berlin: SPD-Chef Kurt Beck lehnt die Raketen ab, um die Partei hinter sich zu scharen. Beim Koalitionspartner wächst der Unmut. Sicherheitsexperte Otfried Nassauer bewertete gegenüber unserer Zeitung das Rüstungsprojekt.

Landeszeitung: Washington will zehn Abfangraketen im Nordosten Polens stationieren. Der Kreml spricht von "Kaltem Krieg". Zu Recht?

Nassauer: Die Kritik des Kreml ist in mehreren Punkten berechtigt:
1. Die NATO hat bei ihrer Erweiterung 1997 versprochen, auf den Territorien der neuen Mitglieder keine strategisch bedeutsamen Militärpotentiale zu stationieren. Dieses Versprechen würde mit einer Raketenstationierung gebrochen.
2. Der russische Präsident Wladimir Putin hat Recht, wenn er sagt: "Wir werden nicht ausreichend konsultiert." Russland wird von Amerika nur informiert.
3. hat Putin Recht, wenn er warnt, dass diese Stationierung ein Wettrüsten nach sich ziehen kann. Zwar kann das Raketenabwehrsystem die Abschreckungsfähigkeit Russlands nicht gefährden, aber vermutlich einen kleinen Teil der russischen Raketen im Südwesten. Also: Es droht kein Kalter Krieg, aber ein deutlicher Klimawandel.


Landeszeitung:
Sind die Einkreisungsängste in Moskau nachvollziehbar?

Nassauer: Einkreisungsängste im Kreml sind existent und zum Teil durch Fakten gedeckt, zum Teil Paranoia mit viel Tradition. Ob die Amerikaner ein mobiles Radar im Kaukasus stationieren, ist noch unklar. Wie im Falle Polens gibt es auch hier noch keine offiziellen Verhandlungen.


Landeszeitung:
Droht ein neues Wettrüsten, wie Moskau warnt?

Nassauer: Es droht Auf- statt Abrüstung, vielleicht ein neues Wettrüsten. Russland würde sich vielleicht veranlasst sehen, seine Angriffsraketen schneller zu modernisieren als vorgesehen. Russland könnte neue strategische Raketen wieder mit Mehrfachsprengköpfen, besser manövrierbaren Sprengköpfen und Täuschkörpern ausrüsten. Die russische Drohung, den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) zu kündigen, der es den USA und Russland verbietet, Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern zu haben, ist dagegen unglaubwürdig oder unklug. Damit würde sich Moskau ins eigene Fleisch schneiden: Viele US-Hardliner wollen den INF-Vertrag selbst gerne kippen. Sie würden sich in Moskau bedanken. Die Möglichkeit, danach aufzurüsten, würde eher den USA als Russland nutzen.


Landeszeitung:
Washington hat seine Pläne modifiziert. Jetzt sollen nicht nur Interkontinentalraketen abgeschossen werden können, sondern auch Mittelstreckenraketen. Ein Grund für Europa, mitzumachen?

Nassauer: Dazu müsste das neue System mit Abfangraketen, die nur zwei statt drei Antriebsstufen haben, erst einmal funktionieren. Versprochen wird, dass die neuen Raketen durch geringeres Gewicht, einen schnelleren Start und größere Manövrierfähigkeit auch anfliegende Mittelstreckenraketen mit Reichweiten ab 2000 oder 2500 Kilometer in der mittleren Flugphase, also außerhalb der Atmosphäre, treffen können. Aber bisher funktioniert ja noch nicht mal das vorhandene Abwehrsystem gegen Langstreckenraketen richtig. Wenn es je funktionieren sollte, wäre das natürlich ein gutes Verkaufsargument in Europa. Ein Raketenabwehrsystem, das nicht nur die USA schützt, sondern auch große Teile von Europa, würden viele leichter akzeptieren. Aber derzeit ist das nicht mehr als eine ungedeckte Behauptung.


Landeszeitung:
Dennoch bleibt der Raketenschutzschild ein nationales Projekt. Mitspracherechte für Europäer werden ausgeschlossen. Sollte Europa ein eigenes System aufbauen?

Nassauer: Bei ihrem Projekt wollen die Amerikaner die Europäer außen vor lassen. Ähnlich wie bei den Atomwaffen kämen Konsultationen in der NATO nur in Frage, wenn Zeit und Umstände es erlauben. Das ist angesichts der kurzen Flugzeiten von Raketen wohl nie der Fall. Sollte Europa künftig die Bedrohungsanalyse der USA teilen und eine solche Raketenabwehr für nötig halten, würde man von den Amerikanern wohl ermutigt werden, ihr System von ihnen zu kaufen.


Landeszeitung:
Noch gibt es aber weder die neuen Abfangraketen noch die bedrohlichen iranischen Trägersysteme. Baut Washington ein Schreckgespenst ohne Substanz auf?

Nassauer: Washington baut - analog zur Theorie von Präventivangriffen - ein System auf, mit dem es seine eigene militärische Dominanz auf Jahrzehnte präventiv festschreiben will. Die Kosten dafür sind enorm: In die Raketenabwehrtechnik wurden seit den 80er-Jahren über 100 Milliarden US-Dollar gesteckt - bis heute ohne die Gewähr, dass die Systeme je funktionieren. Zugrunde liegt dem der amerikanische Traum von der Unverwundbarkeit, den Europa nicht teilt. Deswegen wird es vielen Europäern immer so erscheinen, dass Washington hier eine Gefahr aufbauscht, um weiter träumen zu können.


Landeszeitung:
Kann man den USA zumindest darin folgen, dass die Abschreckung im Kalten Krieg funktionierte, weil sich zwei rationale System gegenüberstanden, ein Gottesstaat sich von der Aussicht auf die eigene Vernichtung aber nicht abschrecken lasse?

Nassauer: Diese Argumentation ist etwas arrogant. Ich bezweifle, dass die Regierung in Teheran irrationaler ist als die eines säkularen Staates. Mahmud Ahmadinedschad verfolgt als Präsident einer aufstrebenden Mittelmacht seine nationalen Interessen - eingebettet allerdings in eine Weltsicht, die an eine von Gott vorherbestimmte Geschichte glaubt.


Landeszeitung:
Birgt der Konflikt besondere Brisanz, weil endzeitliche Visionen in Teheran wie in Washington geteilt werden?

Nassauer: Den Glauben an eine vorherbestimmte Geschichte und die unausweichliche Endschlacht in Armageddon teilen beide. Diese Gemeinsamkeit kann nicht beruhigen. Gefährlich würde es, wenn einer oder beide sich und seine Politik für ein Werkzeug Gottes auf dem Weg zum Ende der Geschichte halten würde.


Landeszeitung:
Gegen iranische Mittelstreckenwaffen will sich die NATO selbst wappnen. Ist das US-Projekt also überflüssig?

Nassauer: Die NATO hat sich bisher nur darauf geeinigt, taktische Raketenabwehrsysteme zu entwickeln, mit denen Truppen im Ausland geschützt werden können. Diese richten sich gegen Raketen mit einer Reichweite von bis zu 1000 Kilometern. Würden auch Systeme gegen Raketen deutlich größerer Reichweite gebaut, so könnten sie auch Bevölkerungszentren in Europa schützen. Bisher besteht allerdings keine Einigkeit im Bündnis, dass man so etwas braucht oder bauen kann.


Landeszeitung:
Die bisherigen US-Raketenabwehr-Tests verliefen eher entmutigend. Sind die politischen Risiken des Vorhabens angesichts unsicherer Erfolgsaussichten angemessen?

Nassauer: Die politischen Risiken sind angesichts der Tatsache, dass es die Bedrohung, gegen die das System aufgebaut werden soll, genauso wenig gibt wie eine ausgereifte und verlässliche Abwehrtechnik, nicht akzeptabel.


Landeszeitung:
Kann ein Schutzschirm lückenlos sein?

Nassauer: Eine lückenlose Abwehr gegen anfliegende Langstreckenraketen kann es nicht geben. Die Kosten, um eine Rakete so zu modifizieren, dass zum Beispiel ihr Sprengkopf manövrierbarer wird und einer Abwehrrakete ausweichen kann oder dass die Rakete das System durch den Ausstoß von Täuschkörpern überlistet, betragen nur einen Bruchteil der Kosten einer entsprechenden Aufrüstung des Schutzschildes.


Landeszeitung:
Der Raketenschild ist die Light-Version der Star-Wars-Pläne von Ronald Reagan. Beschwört Washington die iranische Bedrohung nur, um den alten Traum der Unverwundbarkeit zu realisieren?

Nassauer: George W. Bush möchte sicherlich gerne in die Geschichtsbücher als der Präsident eingehen, der nach dem 11. September den Traum von der Unverwundbarkeit wiederbelebt hat. Dafür hat er Reagans SDI unter neuem Namen wiederbelebt. Dass damit auch irrationale Elemente verbunden sind, ist logisch. Vielleicht geht es Bush aber auch vor allem darum, seine Raketenabwehr so weit voranzutreiben, dass kein Nachfolger das Projekt noch kippen kann.


Landeszeitung:
Washington umgeht die NATO, um Verzögerungen zu vermeiden. Begräbt der Schutzschild das atlantische Bündnis?

Nassauer: Das Raketenabwehrsystem stellt eine Gefahr für den Zusammenhalt des Bündnisses dar. Die NATO ging immer von der Theorie aus, dass das gesamte Bündnisterritorium ein Gebiet gleicher Sicherheit darstellt. Nimmt man diese Theorie ernst, ist das Bündnis in Gefahr. Geht man allerdings davon aus, dass das Bündnisgebiet immer in Gebiete unterschiedlicher Sicherheit zerfiel, vergrößert das Projekt lediglich die Ungleichheiten innerhalb der NATO. Aus US-Sicht soll sich die NATO in ein Bündnis anderer Art verwandeln: Ein Bündnis, das vor allem dazu dient, die globale Dominanz der USA zu unterstützen. Diese Entwicklungsperspektive wird auf Dauer vom so genannten alten Europa nicht mitgetragen werden - und auch nicht von allen neuen EU-Mitgliedsländern. Die Risiken für Europa wären zu groß.


Landeszeitung:
Polen und Tschechien drängen unter den US-Schutzschirm, trotz NATO und EU. Nutzt die Hypermacht das Projekt, um Europa zu spalten?

Nassauer: Washington hat immer ein gespaltenes Verhältnis zu Europa gehabt. Henry Kissingers Ruf nach der "einen Telefonnummer", der einen Stimme, die für Europa spricht, stand nie allein. Andere vertraten immer eine Strategie des Rosinenpickens, also die Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten, die sich als willfährige Unterstützer der USA zeigten, weil sie sich nationale Vorteile erhofften. Langfristig ist die zweite Strategie aber nicht im amerikanischen Interesse. Amerika braucht Partner, um die Weltordnung gestalten zu können. Europa dagegen muss begreifen, dass es sich von den USA auch emanzipieren muss, um ein eigenständiger, handlungsfähiger Pol zu werden, der Verantwortung übernehmen kann. Das muss nicht militärisch sein, weil Europa seine großen Stärken im nichtmilitärischen Krisenmanagement hat.

Das Interview führte Joachim Zießler


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS