Schutzschild soll US-Dominanz sichern
Washingtons Raketenabwehrprojekt kann die NATO spalten
Interview mit Otfried Nassauer
Ein Rüstungsprojekt sorgt für Zwist: Die USA wollen ein Raketenabwehrsystem
installieren, um sich vor nordkoreanischen oder iranischen Atomraketen zu schützen. Die
technologische Herausforderung ist enorm: Eine Rakete abzufangen entspricht dem Versuch,
eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel zu treffen. Europa zeigt sich gespalten. Ebenso die
große Koalition in Berlin: SPD-Chef Kurt Beck lehnt die Raketen ab, um die Partei hinter
sich zu scharen. Beim Koalitionspartner wächst der Unmut. Sicherheitsexperte Otfried
Nassauer bewertete gegenüber unserer Zeitung das Rüstungsprojekt.
Landeszeitung: Washington will zehn Abfangraketen im Nordosten Polens
stationieren. Der Kreml spricht von "Kaltem Krieg". Zu Recht?
Nassauer: Die Kritik des Kreml ist in mehreren Punkten berechtigt:
1. Die NATO hat bei ihrer Erweiterung 1997 versprochen, auf den Territorien der neuen
Mitglieder keine strategisch bedeutsamen Militärpotentiale zu stationieren. Dieses
Versprechen würde mit einer Raketenstationierung gebrochen.
2. Der russische Präsident Wladimir Putin hat Recht, wenn er sagt: "Wir werden nicht
ausreichend konsultiert." Russland wird von Amerika nur informiert.
3. hat Putin Recht, wenn er warnt, dass diese Stationierung ein Wettrüsten nach sich
ziehen kann. Zwar kann das Raketenabwehrsystem die Abschreckungsfähigkeit Russlands nicht
gefährden, aber vermutlich einen kleinen Teil der russischen Raketen im Südwesten. Also:
Es droht kein Kalter Krieg, aber ein deutlicher Klimawandel.
Landeszeitung: Sind die Einkreisungsängste in Moskau nachvollziehbar?
Nassauer: Einkreisungsängste im Kreml sind existent und zum Teil durch Fakten
gedeckt, zum Teil Paranoia mit viel Tradition. Ob die Amerikaner ein mobiles Radar im
Kaukasus stationieren, ist noch unklar. Wie im Falle Polens gibt es auch hier noch keine
offiziellen Verhandlungen.
Landeszeitung: Droht ein neues Wettrüsten, wie Moskau warnt?
Nassauer: Es droht Auf- statt Abrüstung, vielleicht ein neues Wettrüsten.
Russland würde sich vielleicht veranlasst sehen, seine Angriffsraketen schneller zu
modernisieren als vorgesehen. Russland könnte neue strategische Raketen wieder mit
Mehrfachsprengköpfen, besser manövrierbaren Sprengköpfen und Täuschkörpern
ausrüsten. Die russische Drohung, den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) zu
kündigen, der es den USA und Russland verbietet, Mittelstreckenraketen mit Reichweiten
zwischen 500 und 5500 Kilometern zu haben, ist dagegen unglaubwürdig oder unklug. Damit
würde sich Moskau ins eigene Fleisch schneiden: Viele US-Hardliner wollen den INF-Vertrag
selbst gerne kippen. Sie würden sich in Moskau bedanken. Die Möglichkeit, danach
aufzurüsten, würde eher den USA als Russland nutzen.
Landeszeitung: Washington hat seine Pläne modifiziert. Jetzt sollen nicht nur
Interkontinentalraketen abgeschossen werden können, sondern auch Mittelstreckenraketen.
Ein Grund für Europa, mitzumachen?
Nassauer: Dazu müsste das neue System mit Abfangraketen, die nur zwei statt
drei Antriebsstufen haben, erst einmal funktionieren. Versprochen wird, dass die neuen
Raketen durch geringeres Gewicht, einen schnelleren Start und größere
Manövrierfähigkeit auch anfliegende Mittelstreckenraketen mit Reichweiten ab 2000 oder
2500 Kilometer in der mittleren Flugphase, also außerhalb der Atmosphäre, treffen
können. Aber bisher funktioniert ja noch nicht mal das vorhandene Abwehrsystem gegen
Langstreckenraketen richtig. Wenn es je funktionieren sollte, wäre das natürlich ein
gutes Verkaufsargument in Europa. Ein Raketenabwehrsystem, das nicht nur die USA schützt,
sondern auch große Teile von Europa, würden viele leichter akzeptieren. Aber derzeit ist
das nicht mehr als eine ungedeckte Behauptung.
Landeszeitung: Dennoch bleibt der Raketenschutzschild ein nationales Projekt.
Mitspracherechte für Europäer werden ausgeschlossen. Sollte Europa ein eigenes System
aufbauen?
Nassauer: Bei ihrem Projekt wollen die Amerikaner die Europäer außen vor
lassen. Ähnlich wie bei den Atomwaffen kämen Konsultationen in der NATO nur in Frage,
wenn Zeit und Umstände es erlauben. Das ist angesichts der kurzen Flugzeiten von Raketen
wohl nie der Fall. Sollte Europa künftig die Bedrohungsanalyse der USA teilen und eine
solche Raketenabwehr für nötig halten, würde man von den Amerikanern wohl ermutigt
werden, ihr System von ihnen zu kaufen.
Landeszeitung: Noch gibt es aber weder die neuen Abfangraketen noch die
bedrohlichen iranischen Trägersysteme. Baut Washington ein Schreckgespenst ohne Substanz
auf?
Nassauer: Washington baut - analog zur Theorie von Präventivangriffen - ein
System auf, mit dem es seine eigene militärische Dominanz auf Jahrzehnte präventiv
festschreiben will. Die Kosten dafür sind enorm: In die Raketenabwehrtechnik wurden seit
den 80er-Jahren über 100 Milliarden US-Dollar gesteckt - bis heute ohne die Gewähr, dass
die Systeme je funktionieren. Zugrunde liegt dem der amerikanische Traum von der
Unverwundbarkeit, den Europa nicht teilt. Deswegen wird es vielen Europäern immer so
erscheinen, dass Washington hier eine Gefahr aufbauscht, um weiter träumen zu können.
Landeszeitung: Kann man den USA zumindest darin folgen, dass die Abschreckung im
Kalten Krieg funktionierte, weil sich zwei rationale System gegenüberstanden, ein
Gottesstaat sich von der Aussicht auf die eigene Vernichtung aber nicht abschrecken lasse?
Nassauer: Diese Argumentation ist etwas arrogant. Ich bezweifle, dass die
Regierung in Teheran irrationaler ist als die eines säkularen Staates. Mahmud
Ahmadinedschad verfolgt als Präsident einer aufstrebenden Mittelmacht seine nationalen
Interessen - eingebettet allerdings in eine Weltsicht, die an eine von Gott
vorherbestimmte Geschichte glaubt.
Landeszeitung: Birgt der Konflikt besondere Brisanz, weil endzeitliche Visionen
in Teheran wie in Washington geteilt werden?
Nassauer: Den Glauben an eine vorherbestimmte Geschichte und die unausweichliche
Endschlacht in Armageddon teilen beide. Diese Gemeinsamkeit kann nicht beruhigen.
Gefährlich würde es, wenn einer oder beide sich und seine Politik für ein Werkzeug
Gottes auf dem Weg zum Ende der Geschichte halten würde.
Landeszeitung: Gegen iranische Mittelstreckenwaffen will sich die NATO selbst
wappnen. Ist das US-Projekt also überflüssig?
Nassauer: Die NATO hat sich bisher nur darauf geeinigt, taktische
Raketenabwehrsysteme zu entwickeln, mit denen Truppen im Ausland geschützt werden
können. Diese richten sich gegen Raketen mit einer Reichweite von bis zu 1000 Kilometern.
Würden auch Systeme gegen Raketen deutlich größerer Reichweite gebaut, so könnten sie
auch Bevölkerungszentren in Europa schützen. Bisher besteht allerdings keine Einigkeit
im Bündnis, dass man so etwas braucht oder bauen kann.
Landeszeitung: Die bisherigen US-Raketenabwehr-Tests verliefen eher entmutigend.
Sind die politischen Risiken des Vorhabens angesichts unsicherer Erfolgsaussichten
angemessen?
Nassauer: Die politischen Risiken sind angesichts der Tatsache, dass es die
Bedrohung, gegen die das System aufgebaut werden soll, genauso wenig gibt wie eine
ausgereifte und verlässliche Abwehrtechnik, nicht akzeptabel.
Landeszeitung: Kann ein Schutzschirm lückenlos sein?
Nassauer: Eine lückenlose Abwehr gegen anfliegende Langstreckenraketen kann es
nicht geben. Die Kosten, um eine Rakete so zu modifizieren, dass zum Beispiel ihr
Sprengkopf manövrierbarer wird und einer Abwehrrakete ausweichen kann oder dass die
Rakete das System durch den Ausstoß von Täuschkörpern überlistet, betragen nur einen
Bruchteil der Kosten einer entsprechenden Aufrüstung des Schutzschildes.
Landeszeitung: Der Raketenschild ist die Light-Version der Star-Wars-Pläne von
Ronald Reagan. Beschwört Washington die iranische Bedrohung nur, um den alten Traum der
Unverwundbarkeit zu realisieren?
Nassauer: George W. Bush möchte sicherlich gerne in die Geschichtsbücher als
der Präsident eingehen, der nach dem 11. September den Traum von der Unverwundbarkeit
wiederbelebt hat. Dafür hat er Reagans SDI unter neuem Namen wiederbelebt. Dass damit
auch irrationale Elemente verbunden sind, ist logisch. Vielleicht geht es Bush aber auch
vor allem darum, seine Raketenabwehr so weit voranzutreiben, dass kein Nachfolger das
Projekt noch kippen kann.
Landeszeitung: Washington umgeht die NATO, um Verzögerungen zu vermeiden.
Begräbt der Schutzschild das atlantische Bündnis?
Nassauer: Das Raketenabwehrsystem stellt eine Gefahr für den Zusammenhalt des
Bündnisses dar. Die NATO ging immer von der Theorie aus, dass das gesamte
Bündnisterritorium ein Gebiet gleicher Sicherheit darstellt. Nimmt man diese Theorie
ernst, ist das Bündnis in Gefahr. Geht man allerdings davon aus, dass das Bündnisgebiet
immer in Gebiete unterschiedlicher Sicherheit zerfiel, vergrößert das Projekt lediglich
die Ungleichheiten innerhalb der NATO. Aus US-Sicht soll sich die NATO in ein Bündnis
anderer Art verwandeln: Ein Bündnis, das vor allem dazu dient, die globale Dominanz der
USA zu unterstützen. Diese Entwicklungsperspektive wird auf Dauer vom so genannten alten
Europa nicht mitgetragen werden - und auch nicht von allen neuen EU-Mitgliedsländern. Die
Risiken für Europa wären zu groß.
Landeszeitung: Polen und Tschechien drängen unter den US-Schutzschirm, trotz
NATO und EU. Nutzt die Hypermacht das Projekt, um Europa zu spalten?
Nassauer: Washington hat immer ein gespaltenes Verhältnis zu Europa gehabt.
Henry Kissingers Ruf nach der "einen Telefonnummer", der einen Stimme, die für
Europa spricht, stand nie allein. Andere vertraten immer eine Strategie des
Rosinenpickens, also die Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten, die sich als
willfährige Unterstützer der USA zeigten, weil sie sich nationale Vorteile erhofften.
Langfristig ist die zweite Strategie aber nicht im amerikanischen Interesse. Amerika
braucht Partner, um die Weltordnung gestalten zu können. Europa dagegen muss begreifen,
dass es sich von den USA auch emanzipieren muss, um ein eigenständiger, handlungsfähiger
Pol zu werden, der Verantwortung übernehmen kann. Das muss nicht militärisch sein, weil
Europa seine großen Stärken im nichtmilitärischen Krisenmanagement hat.
Das Interview führte Joachim Zießler |
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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