Blätter für deutsche und internationale Politik
Ausgabe Januar 2005


Der Konflikt um Irans Atomprogramm:

Die EU muss das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten sofort auf die Tagesordnung setzen


Prof. Dr. Mohssen Massarrat


Der Konflikt um Irans Atomprogramm hält weiterhin an. Unabhängig vom Ergebnis laufender Verhandlungen sind grundsätzlich drei Optionen denkbar: Erstens akzeptiert der Iran den Vorschlag der EU-Troika (Deutschland, Frankreich und England) und verzichtet für immer auf die Urananreicherung als waffenfähige Technologielinie, was nach dem gegenwärtigen inneriranischen Diskussionsstand unwahrscheinlich ist. Zweitens erklärt sich der Iran auf der Basis der Mitte November 2004 mit der Troika vereinbarten Absichtserklärung bereit, die Urananreicherung nicht auf Dauer, sondern nur befristet auszusetzen. Drittens stellen Hardliner und extreme Positionen auf beiden Seiten des Konflikts, in USA und in Iran, den erzielten EU/Iran-Kompromiss in Frage.

Im dritten Szenario erschiene nach dem gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung in westlichen Staaten der Iran als uneinsichtige Konfliktpartei, die versucht, mit "orientalischen Bazar-Tricks" den Westen übers Ohr zu hauen. Die EU-Troika würde sich dann mit einer Schuldzuweisung an die iranische Seite aus der Affäre ziehen und damit den Weg für eine UN-Sicherheitsratsresolution nach amerikanischer Gangart frei machen. Die USA würden - gerade nach der Wiederwahl von George W. Bush - fortan nach der altbekannten und im Kosovo- und Irak-Krieg in Szene gesetzten Drohkulisse handeln: erst eine harte Resolution des UN-Sicherheitsrates, dann mit oder ohne UN der Gewalteinsatz.

Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sich früher oder später tatsächlich das letzte Szenario durchsetzen wird. Es sei denn, die EU oder der Iran bzw. beide zusammen ringen sich zu einer anderen Lösungsperspektive durch. Ihre bisherigen Verhandlungen im Atomstreit seit Herbst 2003 bewegen sich auf einem Holzweg, der - wie im Folgenden näher begründet wird - nicht zu einer dauerhaften Lösung führen kann.

 

Was will eigentlich der Iran?

Es ist jetzt schon klar, der Iran wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf einen völligen Verzicht auf Urananreicherung nicht einlassen. Die genaue Analyse der inneriranischen Debatte lässt eine andere Interpretation weitgehend aus. Repräsentanten der Islamischen Republik beteuern - an die Adresse der Europäer gerichtet - unentwegt das friedliche Ziel des iranischen Atomprogramms. "Wenn die Europäer ernsthaft besorgt sind", sagte Revolutionsführer Khamenei im Sommer 2004, "dass wir Nuklearwaffen anstreben, so versichern wir ihnen, dass wir nicht auf der Suche nach derartigen Waffen sind. Wenn sie aber besorgt sind, dass wir die Nukleartechnologie beherrschen und uns das Wissen für diesen herausragenden Zweig der Technologie aneignen und sie dieses unterbinden wollen, dann erklären wir ihnen: das iranische Volk wird sich diesem Unrechtsdiktat nicht unterwerfen."[1] Auch Staatspräsident Khatami unterstrich in einer Pressekonferenz Ende August die iranische Bereitschaft, "alle erdenklichen Garantien zu geben, dass wir keine Atomwaffen anstreben, weil wir sie nicht wollen. Atomwaffen gehören nicht zu unserer Sicherheitsdoktrin, Atomwaffen widersprechen Irans Interessen und unserem islamischen Glauben. Wer sich selbst den Gebrauch dieser Waffen untersagt, der wird sie auch nicht herstellen."[2]

Was aber ist nun die Wahrheit? Geht es Iran tatsächlich um die friedliche Nutzung der Atomenergie, kann man den Versicherungen der Repräsentanten des Gottesstaates wirklich Glauben schenken? Fakt ist, dass ein Großteil der Intellektuellen und politischen Elite Irans durch alle Strömungen und Fraktionen hindurch fest daran glaubt, dass die Nuklearwissenschaft und -technologie das Höchste ist, was ein Land überhaupt erreichen kann. "Der nukleare Brennstoffkreislauf", sagt Ghassem Soleymani, Planungsdirektor des iranischen Uranbergwerks in Saghene, "gehört zu unserer Identität, unserem Blut und unserer nationalen Sicherheit."[3] Auch Khatami glaubt, dass die Atomtechnologie "unseren nationalen Interessen, unserer nationalen Ehre, unserer Zukunft entspricht und dass unser Fortschritt davon abhängt."[4] Der Bergwerksdirektor und der Staatspräsident bringen die im Iran weit verbreitete Meinung - zugegeben mystisch überhöht - auf den Punkt, auch wenn die iranische Elite mit dieser Auffassung auf dem Wissensstand der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stehen geblieben ist. Der Iran verfügt über die viertgrößten Öl- und die zweitgrößten Gasvorräte der Welt sowie über ein beträchtliches Potential an regenerativen Energiequellen. Dass aber ausgerechnet die teuerste und risikoreichste Energietechnologie, eben die Atomenergie, die künftige Energieversorgung des Landes sichern soll, stellt die Glaubwürdigkeit der Haltung des offiziellen Iran am stärksten in Frage.[5] Tatsächlich sprechen einflussreiche Vertreter der Konservativen, wie Djawad Larijani - einer der Kandidaten für den Posten des künftigen Staatspräsidenten - offen aus, worum es dem Iran eigentlich geht: "In sicherheitspolitischer Hinsicht macht es überhaupt keinen Sinn, dass der Feind über Atomwaffen verfügt, wir aber darauf verzichten. ... Es ist unser gutes Recht, Atomwaffen zu besitzen, weil alle Staaten um uns herum Atomwaffen besitzen. Israel verfügt über Atomwaffen, daher ist niemand legitimiert, uns das zu untersagen." Der Verteidigungsminister Irans, Shamkhani, unterstrich, dass "wir uns nach der herrschenden Lehre ganz sicher bedroht fühlen und dass wir uns für den denkbar ungünstigsten Fall vorbereiten. ... Ein Land, das sich darauf nicht einstellt, wird das Schicksal erleben wie der Irak."[6]



Suspendierung der Urananreicherung ist keine Antwort auf ein folgenreiches Sicherheitsdilemma

Die EU-Troika ignoriert offensichtlich den eigentlichen Konfliktkern: Die herrschende nukleare Bedrohungsasymmetrie zwischen Israel (als kleines Land mit einer Bevölkerungszahl von rund 6 Millionen) an der Peripherie des Mittleren Ostens einerseits und allen anderen Regionalstaaten, allen voran Iran, mit seiner unbestreitbar strategischen Lage im Zentrum des Mittleren Ostens und ca. 65 Millionen Menschen andererseits. Israel fühlte sich mit seiner Bevölkerung von 6 Millionen inmitten von über 200 Millionen Arabern und Moslems schon immer bedroht und beschloss bereits in den fünfziger Jahren, dem demographischen Ungleichgewicht gemäß der herrschenden Lehre von Balance of Power eigene Atomwaffen entgegen zu setzen.[7] Dadurch setzte es - gewollt oder ungewollt - eine Eskalation des nuklearen Wettrüstens in der Region überhaupt erst in Gang. Alle Regionalstaaten, die etwas auf sich hielten, zunächst Ägypten, dann der Irak und jetzt der Iran, wurden zur Aufrüstung regelrecht getrieben. Der Iran kann - völlig unabhängig von der jeweiligen politischen Ordnung - auf Dauer die atomare Bedrohung Israels nicht hinnehmen. Ist aber der Aufbau einer nuklearen Streitmacht, die Israel de facto zu der sechstgrößten Atommacht werden lässt, die klügste Antwort auf die demographische Bedrohungsasymmetrie und kann und darf diese Frage ernsthaft außen vor gelassen werden? Die israelische Bedrohung ist durchaus keine abstrakte Bedrohung. Bereits vier Mal erwog Israels Armee den Einsatz von Atomwaffen: 1967 im Sechs-Tage-Krieg, 1973 im Jom Kippur Krieg, 1982 bei der Invasion im Libanon und 1991 im Irak-Kuwait Krieg.[8]

Der Iran strebt sicherheitspolitisch ohne jeden Zweifel ein "Gleichgewicht des Schreckens" an und folgt dabei einer im Westen seit jeher dominanten Theorie der Balance of Power.[9] Er handelt somit ganz und gar "westlich rational", sofern hier angesichts eines dann unvermeidlichen nuklearen Wettrüstens - wie seinerzeit im Ost-West Konflikt - überhaupt von Rationalität die Rede sein kann. Irans Atomprogramm - darüber besteht kein Zweifel - ist energiepolitisch und erst recht ökologisch purer Unsinn, aber völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Wohl angreifbar ist jedoch Irans taktisches Spiel, die waffentechnisch relevanten Bausteine des Programms einer Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde entziehen zu wollen. Insofern verletzt der Iran bestenfalls das Zusatzprotokoll zum Nichtweiterverbreitungsvertrag (NVV), dem sogenannten Atomwaffensperrvertrag.[10] Doch stehen die USA - in diesem Konflikt moralisch und völkerrechtlich in einem schlechteren Licht da. Nicht nur, dass sie entgegen der Selbstverpflichtung aller Atommächte (Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages) atomar nicht abrüsten, sie entwickeln sogar taktische Atomwaffen für den Einsatz gegen die "Schurkenstaaten" - wozu auch der Iran gezählt wird - und rüsten darüber hinaus Israels Angriffspotentiale auf, die bei einem möglichen Angriff gegen Irans Atomanlagen zum Einsatz kommen könnten.[11]

Angesichts dieser Sachlage dürfte die Ende November 2004 beschlossene IAEO-Resolution nicht von langer Dauer sein, da sie dem Iran den Verzicht auf Herstellung von Atomwaffen aufbürdet, Israels atomare Vormachtstellung jedoch unangetastet lässt. Auch die Vorstellung der EU-Troika, den Iran durch einen Kuhhandel "Wirtschaftliche Anreize gegen Verzicht auf Urananreicherung" beschwichtigen zu wollen, erscheint reichlich naiv. Es ist eigentlich nicht zu fassen: Außenpolitiker von internationalem Rang benehmen sich wie schlechte Pädagogen. Sie stecken offensichtlich den Kopf in den Sand und tun so, als wäre ihnen das hinter dem Konflikt stehende Dilemma völlig unbekannt. Bazar-Mentalität hin, Bazar-Mentalität her, sie verhalten sich bei dem Konflikt genau wie die iranische Seite. Die Reaktionen der letzteren auf die EU-Kooperationsangebote waren vor der Einigung Mitte November 2004 ziemlich einhellig: "Iran ist zu einer Zusammenarbeit mit der Atomenergiebehörde bereit, jedoch nicht zu einem Verzicht auf Urananreicherung", so der Direktor des iranischen Atomenergieorganisation Aghazadeh und der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates Rohani Mitte Oktober. "Vielleicht ließe sich über die Dauer eines Moratoriums verhandeln, alles andere überschreitet unsere rote Linie und ist daher nicht verhandelbar", fügte Rohani hinzu. Ende Oktober beschloss das iranische Parlament einstimmig ein Gesetz, das die Regierung zwingt, auf Urananreicherung auf keinen Fall zu verzichten. Der Staatspräsident Khatami offenbarte bei einer Pressekonferenz am 20. Oktober zum ersten Mal indirekt, dass es bei dem Atomprogramm auch um andere Dinge geht als um die Produktion von Strom: "Noch verfügt Iran nicht über die Atomtechnologie und dennoch diese Aufregung. Gleichzeitig ist jedoch nicht die geringste Sorge darüber spürbar, dass andere Atomwaffen haben und sie auch herstellen."[12] Iran ist keine Demokratie, doch wäre es verhängnisvoll, den Ernst der Debatten und Positionen in einem halbdemokratischen Iran bei einem derart ernsten Anliegen zu unterschätzen. In einem Iran mit funktionierender parlamentarischer Demokratie würden die Parteien bei einer offenen Konkurrenz um die Anhängerschaft sicherlich eine unnachgiebigere Haltung in diesem Konflikt einnehmen, ja einnehmen müssen. Es geht immerhin um die nationale Sicherheit.

Hinter der scheinbar undurchsichtigen Haltung Irans verbirgt sich klar eine Doppelstrategie: Einerseits alle für eine Atomwaffentechnologie erforderlichen Bausteine zu verwirklichen und - wie Israel, Indien und Pakistan es erfolgreich vorgemacht haben - Schritt für Schritt Fakten zu schaffen, und andererseits sich durch Teilkooperation mit der IAEO vor Sanktionen oder militärischen Angriffen zu schützen. Darauf würden sich jedoch die USA und Israel nach Lage der Dinge nicht einlassen. Diese sind vielmehr entschlossen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass der Iran zu einer regionalen Atommacht aufsteigt. Sie glauben, die bestehende Macht- und Bedrohungsasymmetrie auf Dauer halten zu können. Gerade weil aber alle beteiligten Konfliktparteien die Offenlegung des Konfliktes scheuen wie der Teufel das Weihwasser, spielen sie mit dem Feuer, das dann irgend jemand anzünden und einen Flächenbrand in der gesamten Region auslösen könnte.



Innenpolitische Beweggründe auf beiden Seiten

Irans konservative Machthaber rechnen bei einer Zuspitzung des Konflikts mit der endgültigen Bändigung ihrer reformorientierten Widersacher. Dass Khatami - nach wie vor die Symbolfigur der Reformbewegung und der "religiösen Demokratie" - sich inzwischen das taktische Spiel der Konservativen zu eigen gemacht hat, können Konservative als einen ersten Erfolg für sich verbuchen. "Wir wollen verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat sich mit Iran befasst", sagte Khatami Mitte August. "Werden sie uns jedoch unser legitimes Recht rauben, dann sollten wir und unser Volk auch bereit sein, den Preis für die Wahrung des nationalen Rechts zu bezahlen, möge dieser Tag aber nicht kommen."[13] Bei einer weiteren Zuspitzung des Konflikts käme die gesamte religiöse wie laizistische Reformbewegung unter die Räder und würde absehbar im Iran weitgehend aufgerieben. Unlängst machte Haschemi Rafsanjani, der strategische Kopf der Konservativen, klar, wohin die innenpolitische Reise geht: "Um unser Ziel auf der internationalen Bühne durchzusetzen, müssen wir jedoch unter uns einig sein. Mit kindischen Streitereien, Fraktionierungen und Träumereien kann man den Kampf gegen derart anmaßende Feinde nicht bestehen."[14]

Doch stehen in diesem Spiel mit dem Feuer um der biederen Motive willen Irans Konservative nicht allein. Ein aus den Wahlen gestärkt hervorgegangener George W. Bush kann durch eine härtere Gangart oder auch Krieg gegen den Iran die Flucht nach vorne antreten, um von dem ausweglos gewordenen Desaster im Irak abzulenken. Auch Sharon befindet sich wegen der katastrophalen Folgen seiner Politik, die die Israelis bisher verarmen ließ, ihnen jedoch keinen Frieden brachte, unter Legitimationsdruck. Angesichts der unnachgiebigen Haltung fundamentalistischer Siedler in der Frage der Räumung israelischer Siedlungen in Gaza steht Sharon eigentlich mit dem Rücken zur Wand. Das Risiko, dass Bush und Sharon die Gefahren eines militärischen Angriffs gegen Irans Atomanlagen aus innenpolitischen Beweggründen reichlich unterschätzen, ist gegenwärtig ungemein groß. Israel handelte des öfteren jenseits des internationalen Rechts und legitimierte "Präventivschläge", wenn Gefahr für Israels Sicherheit ausgemacht wurde, so z.B. auch gegen Iraks Atomanlagen am 7. Juni 1981.



Chance für eine Neuorientierung der EU, gerade nach der Wiederwahl von George W. Bush

Man kann nur hoffen, dass dieses gefährliche Szenario nicht eintritt. Die Ausgangsbedingungen dafür sind allerdings denkbar besorgniserregend. Durch die IAEO-Resolution Ende November 2004 wurde der Konflikt nur vertagt. Selbst wenn sich die gegenwärtige Machtelite Irans auf diesen Deal einließe, bliebe Irans Sicherheitsdilemma weiterhin bestehen. Die EU spielte mit ihrem Zaudern im Grund genommen den extremistischen Positionen und Motiven im Konflikt - den Konservativen Irans einerseits, Bush und Sharon andererseits - buchstäblich in die Hände. Da beide Seiten auf ihre Ziele pochen, der Iran auf ein eigenes Abschreckungspotential morgen oder übermorgen gegen Israels atomare Vormachtstellung, und umgekehrt die USA und Israel darauf, diese Vormachtstellung nicht aus der Hand zu geben, wird die Gefahr einer Eskalation einschließlich eines neuen Krieges in naher Zukunft zum einzig möglichen "Ausweg", der sich nahtlos in den US-Unilateralismus einfügt. Vor dem Hintergrund dieser Analyse ist die Warnung des deutschen Außenministers, Joschka Fischer, der Iran sollte sich vor einer "Fehleinschätzung der Reaktionen der internationalen Gemeinschaft" hüten, entweder ein Beleg für die bedrückende Ratlosigkeit oder für mangelnde Einsicht, dass die atomare Vormachtstellung Israels die gefährlichste Alternaive darstellt, um Israels Existenzrecht zu sichern und Israels Bevölkerung dauerhaft mehr Sicherheit zu gewähren.

Die EU und die deutsche Außenpolitik müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihre defensive Haltung die Unilateralisten in den USA eher stärkt. Die Frontlinien verlaufen nicht - wie viele annehmen - zwischen den USA und Europa, sondern zwischen Multilateralisten und Unilateralisten auf beiden Seiten des Atlantik. Europas Multilateralismus hat somit in den USA einflussreiche Verbündete. Ein selbstbewusstes und offensives Europa mit glaubwürdigen Konzepten zum Irak-Krieg, zum Nahost-Konflikt und zum Konflikt mit dem Iran würde die aufrechten und arg in die Defensive geratenen Multilateralisten in den Vereinigten Staaten sicher stärken. Schröders Ablehnung des Irak-Krieges hat den verängstigten US-Multilateralisten nachweislich Mut gemacht, aus der Deckung heraus zu kommen.[15] Auch jetzt sehnen sich diese Kräfte in den USA nach Initiativen aus der EU, die ihnen innenpolitisch Auftrieb geben. Daher wäre es analytisch falsch und politisch verhängnisvoll, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu unterschätzen. Nichtstun in der Hängematte der Ablehnung des Irak-Krieges mag sehr bequem sein, ist jedoch nicht nur defensiv, sondern auch verantwortungslos. Die Chance muss gerade jetzt nach der Wiederwahl von George W. Bush und der Gefahr eines fundamentalistischen Durchmarsches in den Vereinigten Staaten vorsichtig, aber mit Konsequenz genutzt werden. Der Iran-Atomkonflikt bietet der EU die Gelegenheit einer Neuorientierung in der Nah- und Mittelostpolitik.

Die EU ist gegenwärtig auch die einzige politische und noch wichtiger moralische Kraft in der Weltpolitik, mit glaubwürdigen friedenspolitischen Alternativen, das konfrontative Blatt der Geschichte im Mittleren und Nahen Osten zu wenden. Glaubwürdigkeit gepaart mit Realitätssinn entwickelt eine politisch-legitimatorische Dynamik, an der auch die matriarchalischsten und machthungrigsten Betonköpfe in den USA, in Israel, aber auch im Iran nicht vorbei könnten. Die EU hat mit der OSZE eine Dynamik in Gang gesetzt, die zur Beendigung des Ost-West-Konflikts maßgeblich beigetragen hat. Jetzt steht in Anlehnung an diese Erfahrungen die Idee einer regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) auf der Agenda der internationalen Diplomatie.



Das Ziel "Massenvernichtungswaffenfreie Zone" muss jetzt in den Vordergrund gestellt werden

Nur die Aussicht auf Lösungen, die mit Kooperation, gemeinsamer Sicherheit und Abrüstung auf die gegenwärtigen konfliktträchtigen Frontstellungen reagieren, erweitern den Handlungsspielraum der Reformkräfte in der gesamten Region, nicht nur im Iran, sondern auch in Israel selbst, um für eine bessere Alternative zu Sharons aussichtsloser Politik auch innenpolitische Mehrheiten zu mobilisieren. Politische Positionen in allen Staaten der Region sind veränderbar, wenn plausible Friedensalternativen nicht tabuisiert, sondern hartnäckig vorangetrieben werden.

Spätestens jetzt, nachdem die gegenwärtige Nahostpolitik mit der Roadmap gescheitert ist und erkennbar wird, dass sie auch im Atomstreit mit dem Iran zum Scheitern verurteilt ist, müsste in Richtung einer regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit nicht nur geredet, sondern gehandelt werden. Die Ziele dieser Alternativen müssten dazu tatsächlich auch im Zentrum stehen und nicht - wie bisher - von unerreichbaren Bedingungen abhängig gemacht werden. Das Scheitern der Roadmap und der Iranpolitik der EU - hier ist eine bemerkenswerte Parallelität festzustellen - war nicht zuletzt auch wegen falscher Prioritäten vorprogrammiert: In der Roadmap wird das zentrale Ziel der Zweistaatenregelung nach mehreren Stufen vom Ende der palästinensischen Terrorangriffe als allererstem Schritt abhängig gemacht. Dadurch wird das eigentliche Ziel, die Zweistaatenregelung, zur Geisel aller extremistischen Strömungen, wie der Hamas in Palästina und der rechten Zionisten in Israel, die dieses Ziel bis aufs Messer bekämpfen. Die nicht enden wollende Gewalteskalation belegt es. - Von der Roadmap redet inzwischen niemand mehr. Auch im Streit um Irans Atomanlagen soll zuallererst der Iran zum Verzicht auf den Zugriff zu Atomwaffen verpflichtet werden, die atomare Vormachtstellung Israels jedoch weiterhin unangetastet bleiben. Das Ziel einer atomwaffen- besser noch massenvernichtungswaffenfreien Zone wird dagegen zu einer puren Phrase, wenn es - wie z.B. in der Teheraner Erklärung vom Oktober 2003 - ganz unverbindlich und nur beiläufig erwähnt wird.

Der Versuch den Opfern, z. B. der israelischen Besatzung in Palästina oder dem atomar bedrohten Iran, einseitige Handlungen aufzuoktroyieren, widerspricht allen Konflikt entschärfenden Methoden und Erkenntnissen, da dies von der unterlegenen Seite als Unrecht empfunden wird und wohl auch so empfunden werden muss. Daraus kann nur die Verschärfung des Konfliktes hervorgehen, nicht jedoch dessen Bewältigung. Für eine falsche Prioritätensetzung der EU könnten Irans Hardliner nur dankbar sein, denn dann verfügten sie mit dem Feindbild "der Westen will mit allen Mitteln den Islam vernichten" über ein wirksames Instrument, um - bei einem neuen und auch wahrscheinlichen Streit mit der IAEO - innenpolitisch einen konfrontativen Kurs, der den Ausbau des Atomprogramms und den Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag einschließt, durchzusetzen und die "Balance of Power" mit eigenen Atomwaffen herzustellen. In der kooperativen und friedlichen Alternative "Abrüstung und massenvernichtungswaffenfreie Zone" würde es dagegen für Fundamentalismus und Nationalismus keinen Platz mehr geben, am wenigsten im Iran. Vielmehr dürfte dies der Demokratisierung im Mittleren und Nahen Osten kräftigen Vorschub geben.

Die EU erreicht mit ihrer Politik der Ausklammerung der Konfliktkerne sowohl im Palästina-Konflikt gerade nach dem entstandenen Machtvakuum und der Chance eines Neubeginns nach Arafat wie im Iran-Streit genau das Gegenteil einer friedvollen Perspektive. Was hat die EU - diese Frage muss an dieser Stelle gestellt werden - eigentlich vor? Verfolgt sie das Ziel, die atomare Vormachtstellung Israels nicht anzutasten, dann liefert sie für die amerikanische Drohkulisse die moralische Legitimation mit vorprogrammierten katastrophalen Folgen: neuer Flächenbrand, weiterer Auftrieb für Nationalismus und Fundamentalismus und kein Frieden im Mittleren und Nahen Osten für sehr sehr lange Zeiten. Beging sie in ihrer Nahost- und Iran-Politik bisher einen Kardinalfehler, dann sollte dieser schleunigst korrigiert werden.

Für die EU hieße das erstens, Israels Atomwaffenarsenale nicht länger zu tabuisieren und das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten sofort auf die Agenda der internationalen Diplomatie zu setzen - was gerade angesichts des Machtvakuums nach Arafat und der Chance eines Neubeginns auch für den Nahost-Konflikt eine neue und dynamische Perspektive eröffnen dürfte - und es als eine der vordringlichsten Aufgaben einzustufen. Und zweitens die Konfliktparteien gleichermaßen aufzufordern, sich diesem Ziel verbindlich zu verpflichten. Alle weiteren Ziele, darunter Israels Sicherheit, Irans Verzicht auf Atomwaffentechnologien und die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates, ordnen sich dann dieser Prioritätenabfolge unter. Diese Neuorientierung dürfte im Fall einer Aussetzung der Urananreicherung im Iran nicht auf die lange Bank geschoben werden. Die entstandene Atempause müsste vielmehr als Chance begriffen werden, unmittelbar den nächsten Schritt einzuleiten, anstatt sich auf den Lorbeeren eines Kompromisses auszuruhen, der zerbrechlich ist.

 


 

ist gebürtiger Iraner, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und forscht u. a. über Konfliktstrukturen und Friedensperspektiven im Mittleren und Nahen Osten

 


 

[1] Shargh, Reformorientierte persische Tageszeitung vom 22. Juni 2004.

[2] Shargh vom 12. August 2004.

[3] Shargh vom 12. September 2004.

[4] Shargh vom 12. August 2004.

[5] Ausführlicher dazu vgl. Massarrat, Mohssen: Iran’s Energy Policy. Current Dilemmas and Perspective for a Sustainable Energy Policy, in: International Journal of Environmental Science & Technology, 3/2004.

[6] Shargh vom 8. August 2004.

[7] Über die Entstehung von Israels Atomwaffenprogramm vgl. „Das Phantom von Dimona“, in: Der Spiegel Nr. 5/2004, S. 110 ff.

[8] Näheres vgl. Der Spiegel Nr. 5/2004, S. 112 f.; ferner Jürgen Rose: Sterben mit den Philistern, in: Freitag vom 25. Juni 2004: „Während des Oktoberkrieges 1973 wurde ein Schlag mit Nuklearwaffen nicht nur in Betracht gezogen, sondern am 8. Oktober 1973 bereits der Befehl erteilt, 13 Kernwaffen für einen Angriff auf die militärischen Hauptquartiere in Kairo und Damaskus vorzubereiten, nachdem Verteidigungsminister Moshe Dayan einen Zusammenbruch der israelischen Defensivoperationen im damaligen Zweifrontenkrieg prophezeit hatte.“ (ebenda).

[9] Vgl. auch Massarrat, Mohssen: Teherans Atompolitik. Die Balance of Power und das regionale Sicherheitsdilemma, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2004.

[10] Der Atomwaffensperrvertrag (Nichtverbreitung-Vertrag (NVV) bzw. Non-Proliferation Treaty (NPT) ) kam 1968 auf Initiative der USA und der Sowjetunion zustande. Der Iran unter dem Schah-Regime trat als einer der ersten Staaten dem Vertrag bei. Artikel IV des Vertrages sichert allen Mitgliedstaaten ausdrücklich das Recht zu, an der friedlichen Nutzung der Kernenergie teilzunehmen. Der Vertrag schließt dabei den Einsatz des gesamten Brennstoffkreislaufes, und damit die Anreicherung von waffenfähigem Uran nicht aus. Um aber dennoch die Weiterverbreitung der Kernwaffentechnologie zu unterbinden, beschlossen die Vertragsstaaten 1997 das Zusatzprotokoll zum NVV. Iran ist zwar dem Protokoll beigetreten, hat es jedoch noch nicht ratifiziert. Zum NVV vgl. Halff, Gregor, 2000: Internationale Nuklearpolitik/Proliferation, In: Woyke, Wichard (Hrsg.), 2000: Handwörterbuch Internationale Politik, Opladen.

[11] Außer den USA als Hauptkooperationspartner Israels in Sachen Atomwaffen und Trägersysteme beteiligt sich offenbar auch Deutschland zumindest indirekt durch die Lieferung von umrüstbaren U-Booten am Ausbau des israelischen Atomwaffenarsenals. Ausführlicher dazu vgl. Jürgen Rose: Sharons Zündhölzer für Arabiens Öl, in: Freitag vom 18. Juni 2004.

[12] Shargh vom 21. Oktober 2004.

[13] Shargh vom 12. August 2004.

[14] Shargh vom 16. September 2004.

[15] Vgl. dazu u.a. diverse Beiträge des renommierten US-Politikwissenschaftlers Norman Bierbaum in den Blättern, aber auch in der Berliner Tageszeitung.