Der Konflikt um Irans Atomprogramm:
Die EU muss das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen
Osten sofort auf die Tagesordnung setzen
Prof. Dr. Mohssen Massarrat
Der Konflikt um Irans Atomprogramm hält weiterhin an. Unabhängig vom Ergebnis laufender
Verhandlungen sind grundsätzlich drei Optionen denkbar: Erstens akzeptiert der
Iran den Vorschlag der EU-Troika (Deutschland, Frankreich und England) und verzichtet für
immer auf die Urananreicherung als waffenfähige Technologielinie, was nach dem
gegenwärtigen inneriranischen Diskussionsstand unwahrscheinlich ist. Zweitens
erklärt sich der Iran auf der Basis der Mitte November 2004 mit der Troika vereinbarten
Absichtserklärung bereit, die Urananreicherung nicht auf Dauer, sondern nur befristet
auszusetzen. Drittens stellen Hardliner und extreme Positionen auf beiden Seiten
des Konflikts, in USA und in Iran, den erzielten EU/Iran-Kompromiss in Frage.
Im dritten Szenario erschiene nach dem gegenwärtigen Stand der
öffentlichen Meinung in westlichen Staaten der Iran als uneinsichtige Konfliktpartei, die
versucht, mit "orientalischen Bazar-Tricks" den Westen übers Ohr zu hauen. Die
EU-Troika würde sich dann mit einer Schuldzuweisung an die iranische Seite aus der
Affäre ziehen und damit den Weg für eine UN-Sicherheitsratsresolution nach
amerikanischer Gangart frei machen. Die USA würden - gerade nach der Wiederwahl von
George W. Bush - fortan nach der altbekannten und im Kosovo- und Irak-Krieg in Szene
gesetzten Drohkulisse handeln: erst eine harte Resolution des UN-Sicherheitsrates, dann
mit oder ohne UN der Gewalteinsatz.
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sich früher oder später
tatsächlich das letzte Szenario durchsetzen wird. Es sei denn, die EU oder der Iran bzw.
beide zusammen ringen sich zu einer anderen Lösungsperspektive durch. Ihre bisherigen
Verhandlungen im Atomstreit seit Herbst 2003 bewegen sich auf einem Holzweg, der - wie im
Folgenden näher begründet wird - nicht zu einer dauerhaften Lösung führen kann.
Was will eigentlich der Iran?
Es ist jetzt schon klar, der Iran wird sich aller Wahrscheinlichkeit
nach auf einen völligen Verzicht auf Urananreicherung nicht einlassen. Die genaue Analyse
der inneriranischen Debatte lässt eine andere Interpretation weitgehend aus.
Repräsentanten der Islamischen Republik beteuern - an die Adresse der Europäer gerichtet
- unentwegt das friedliche Ziel des iranischen Atomprogramms. "Wenn die Europäer
ernsthaft besorgt sind", sagte Revolutionsführer Khamenei im Sommer 2004, "dass
wir Nuklearwaffen anstreben, so versichern wir ihnen, dass wir nicht auf der Suche nach
derartigen Waffen sind. Wenn sie aber besorgt sind, dass wir die Nukleartechnologie
beherrschen und uns das Wissen für diesen herausragenden Zweig der Technologie aneignen
und sie dieses unterbinden wollen, dann erklären wir ihnen: das iranische Volk wird sich
diesem Unrechtsdiktat nicht unterwerfen."[1]
Auch Staatspräsident Khatami unterstrich in einer Pressekonferenz Ende August die
iranische Bereitschaft, "alle erdenklichen Garantien zu geben, dass wir keine
Atomwaffen anstreben, weil wir sie nicht wollen. Atomwaffen gehören nicht zu unserer
Sicherheitsdoktrin, Atomwaffen widersprechen Irans Interessen und unserem islamischen
Glauben. Wer sich selbst den Gebrauch dieser Waffen untersagt, der wird sie auch nicht
herstellen."[2]
Was aber ist nun die Wahrheit? Geht es Iran tatsächlich um die
friedliche Nutzung der Atomenergie, kann man den Versicherungen der Repräsentanten des
Gottesstaates wirklich Glauben schenken? Fakt ist, dass ein Großteil der Intellektuellen
und politischen Elite Irans durch alle Strömungen und Fraktionen hindurch fest daran
glaubt, dass die Nuklearwissenschaft und -technologie das Höchste ist, was ein Land
überhaupt erreichen kann. "Der nukleare Brennstoffkreislauf", sagt Ghassem
Soleymani, Planungsdirektor des iranischen Uranbergwerks in Saghene, "gehört zu
unserer Identität, unserem Blut und unserer nationalen Sicherheit."[3] Auch Khatami glaubt, dass die Atomtechnologie
"unseren nationalen Interessen, unserer nationalen Ehre, unserer Zukunft entspricht
und dass unser Fortschritt davon abhängt."[4]
Der Bergwerksdirektor und der Staatspräsident bringen die im Iran weit verbreitete
Meinung - zugegeben mystisch überhöht - auf den Punkt, auch wenn die iranische Elite mit
dieser Auffassung auf dem Wissensstand der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
stehen geblieben ist. Der Iran verfügt über die viertgrößten Öl- und die
zweitgrößten Gasvorräte der Welt sowie über ein beträchtliches Potential an
regenerativen Energiequellen. Dass aber ausgerechnet die teuerste und risikoreichste
Energietechnologie, eben die Atomenergie, die künftige Energieversorgung des Landes
sichern soll, stellt die Glaubwürdigkeit der Haltung des offiziellen Iran am stärksten
in Frage.[5] Tatsächlich sprechen
einflussreiche Vertreter der Konservativen, wie Djawad Larijani - einer der Kandidaten
für den Posten des künftigen Staatspräsidenten - offen aus, worum es dem Iran
eigentlich geht: "In sicherheitspolitischer Hinsicht macht es überhaupt keinen Sinn,
dass der Feind über Atomwaffen verfügt, wir aber darauf verzichten. ... Es ist unser
gutes Recht, Atomwaffen zu besitzen, weil alle Staaten um uns herum Atomwaffen besitzen.
Israel verfügt über Atomwaffen, daher ist niemand legitimiert, uns das zu
untersagen." Der Verteidigungsminister Irans, Shamkhani,
unterstrich, dass "wir uns nach der herrschenden Lehre ganz sicher bedroht fühlen
und dass wir uns für den denkbar ungünstigsten Fall vorbereiten. ... Ein Land, das sich
darauf nicht einstellt, wird das Schicksal erleben wie der Irak."[6]
Suspendierung der Urananreicherung ist keine Antwort auf ein folgenreiches
Sicherheitsdilemma
Die EU-Troika ignoriert offensichtlich den eigentlichen Konfliktkern:
Die herrschende nukleare Bedrohungsasymmetrie zwischen Israel (als kleines Land mit einer
Bevölkerungszahl von rund 6 Millionen) an der Peripherie des Mittleren Ostens einerseits
und allen anderen Regionalstaaten, allen voran Iran, mit seiner unbestreitbar
strategischen Lage im Zentrum des Mittleren Ostens und ca. 65 Millionen Menschen
andererseits. Israel fühlte sich mit seiner Bevölkerung von 6 Millionen inmitten von
über 200 Millionen Arabern und Moslems schon immer bedroht und beschloss bereits in den
fünfziger Jahren, dem demographischen Ungleichgewicht gemäß der herrschenden Lehre von Balance
of Power eigene Atomwaffen entgegen zu setzen.[7]
Dadurch setzte es - gewollt oder ungewollt - eine Eskalation des nuklearen Wettrüstens in
der Region überhaupt erst in Gang. Alle Regionalstaaten, die etwas auf sich hielten,
zunächst Ägypten, dann der Irak und jetzt der Iran, wurden zur Aufrüstung regelrecht
getrieben. Der Iran kann - völlig unabhängig von der jeweiligen politischen Ordnung -
auf Dauer die atomare Bedrohung Israels nicht hinnehmen. Ist aber der Aufbau einer
nuklearen Streitmacht, die Israel de facto zu der sechstgrößten Atommacht werden lässt,
die klügste Antwort auf die demographische Bedrohungsasymmetrie und kann und darf diese
Frage ernsthaft außen vor gelassen werden? Die israelische Bedrohung ist durchaus keine
abstrakte Bedrohung. Bereits vier Mal erwog Israels Armee den Einsatz von Atomwaffen: 1967
im Sechs-Tage-Krieg, 1973 im Jom Kippur Krieg, 1982 bei der Invasion im Libanon und 1991
im Irak-Kuwait Krieg.[8]
Der Iran strebt sicherheitspolitisch ohne jeden Zweifel ein
"Gleichgewicht des Schreckens" an und folgt dabei einer im Westen seit jeher
dominanten Theorie der Balance of Power.[9]
Er handelt somit ganz und gar "westlich rational", sofern hier angesichts eines
dann unvermeidlichen nuklearen Wettrüstens - wie seinerzeit im Ost-West Konflikt -
überhaupt von Rationalität die Rede sein kann. Irans Atomprogramm - darüber besteht
kein Zweifel - ist energiepolitisch und erst recht ökologisch purer Unsinn, aber
völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Wohl angreifbar ist jedoch Irans taktisches Spiel,
die waffentechnisch relevanten Bausteine des Programms einer Kontrolle der Internationalen
Atomenergiebehörde entziehen zu wollen. Insofern verletzt der Iran bestenfalls das
Zusatzprotokoll zum Nichtweiterverbreitungsvertrag (NVV), dem sogenannten
Atomwaffensperrvertrag.[10] Doch stehen die
USA - in diesem Konflikt moralisch und völkerrechtlich in einem schlechteren Licht da.
Nicht nur, dass sie entgegen der Selbstverpflichtung aller Atommächte (Artikel VI des
Atomwaffensperrvertrages) atomar nicht abrüsten, sie entwickeln sogar taktische
Atomwaffen für den Einsatz gegen die "Schurkenstaaten" - wozu auch der
Iran gezählt wird - und rüsten darüber hinaus Israels Angriffspotentiale auf, die bei
einem möglichen Angriff gegen Irans Atomanlagen zum Einsatz kommen könnten.[11]
Angesichts dieser Sachlage dürfte die Ende November 2004 beschlossene
IAEO-Resolution nicht von langer Dauer sein, da sie dem Iran den Verzicht auf Herstellung
von Atomwaffen aufbürdet, Israels atomare Vormachtstellung jedoch unangetastet lässt.
Auch die Vorstellung der EU-Troika, den Iran durch einen Kuhhandel "Wirtschaftliche
Anreize gegen Verzicht auf Urananreicherung" beschwichtigen zu wollen, erscheint
reichlich naiv. Es ist eigentlich nicht zu fassen: Außenpolitiker von internationalem
Rang benehmen sich wie schlechte Pädagogen. Sie stecken offensichtlich den Kopf in den
Sand und tun so, als wäre ihnen das hinter dem Konflikt stehende Dilemma völlig
unbekannt. Bazar-Mentalität hin, Bazar-Mentalität her, sie verhalten sich bei dem
Konflikt genau wie die iranische Seite. Die Reaktionen der letzteren auf die
EU-Kooperationsangebote waren vor der Einigung Mitte November 2004 ziemlich einhellig:
"Iran ist zu einer Zusammenarbeit mit der Atomenergiebehörde bereit, jedoch nicht zu
einem Verzicht auf Urananreicherung", so der Direktor des iranischen
Atomenergieorganisation Aghazadeh und der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates
Rohani Mitte Oktober. "Vielleicht ließe sich über die Dauer eines Moratoriums
verhandeln, alles andere überschreitet unsere rote Linie und ist daher nicht
verhandelbar", fügte Rohani hinzu. Ende Oktober beschloss das iranische Parlament
einstimmig ein Gesetz, das die Regierung zwingt, auf Urananreicherung auf keinen Fall zu
verzichten. Der Staatspräsident Khatami offenbarte bei einer Pressekonferenz am 20.
Oktober zum ersten Mal indirekt, dass es bei dem Atomprogramm auch um andere Dinge geht
als um die Produktion von Strom: "Noch verfügt Iran nicht über die Atomtechnologie
und dennoch diese Aufregung. Gleichzeitig ist jedoch nicht die geringste Sorge darüber
spürbar, dass andere Atomwaffen haben und sie auch herstellen."[12] Iran ist keine Demokratie, doch wäre es
verhängnisvoll, den Ernst der Debatten und Positionen in einem halbdemokratischen Iran
bei einem derart ernsten Anliegen zu unterschätzen. In einem Iran mit funktionierender
parlamentarischer Demokratie würden die Parteien bei einer offenen Konkurrenz um die
Anhängerschaft sicherlich eine unnachgiebigere Haltung in diesem Konflikt einnehmen, ja
einnehmen müssen. Es geht immerhin um die nationale Sicherheit.
Hinter der scheinbar undurchsichtigen Haltung Irans verbirgt sich klar
eine Doppelstrategie: Einerseits alle für eine Atomwaffentechnologie erforderlichen
Bausteine zu verwirklichen und - wie Israel, Indien und Pakistan es erfolgreich vorgemacht
haben - Schritt für Schritt Fakten zu schaffen, und andererseits sich durch
Teilkooperation mit der IAEO vor Sanktionen oder militärischen Angriffen zu schützen.
Darauf würden sich jedoch die USA und Israel nach Lage der Dinge nicht einlassen. Diese
sind vielmehr entschlossen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass der Iran zu einer
regionalen Atommacht aufsteigt. Sie glauben, die bestehende Macht- und
Bedrohungsasymmetrie auf Dauer halten zu können. Gerade weil aber alle beteiligten
Konfliktparteien die Offenlegung des Konfliktes scheuen wie der Teufel das Weihwasser,
spielen sie mit dem Feuer, das dann irgend jemand anzünden und einen Flächenbrand in der
gesamten Region auslösen könnte.
Innenpolitische Beweggründe auf beiden Seiten
Irans konservative Machthaber rechnen bei einer Zuspitzung des
Konflikts mit der endgültigen Bändigung ihrer reformorientierten Widersacher. Dass
Khatami - nach wie vor die Symbolfigur der Reformbewegung und der "religiösen
Demokratie" - sich inzwischen das taktische Spiel der Konservativen zu eigen gemacht
hat, können Konservative als einen ersten Erfolg für sich verbuchen. "Wir wollen
verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat sich mit Iran befasst", sagte Khatami Mitte
August. "Werden sie uns jedoch unser legitimes Recht rauben, dann sollten wir und
unser Volk auch bereit sein, den Preis für die Wahrung des nationalen Rechts zu bezahlen,
möge dieser Tag aber nicht kommen."[13]
Bei einer weiteren Zuspitzung des Konflikts käme die gesamte religiöse wie laizistische
Reformbewegung unter die Räder und würde absehbar im Iran weitgehend aufgerieben.
Unlängst machte Haschemi Rafsanjani, der strategische Kopf der Konservativen, klar, wohin
die innenpolitische Reise geht: "Um unser Ziel auf der internationalen Bühne
durchzusetzen, müssen wir jedoch unter uns einig sein. Mit kindischen Streitereien,
Fraktionierungen und Träumereien kann man den Kampf gegen derart anmaßende Feinde nicht
bestehen."[14]
Doch stehen in diesem Spiel mit dem Feuer um der biederen Motive willen
Irans Konservative nicht allein. Ein aus den Wahlen gestärkt hervorgegangener George W.
Bush kann durch eine härtere Gangart oder auch Krieg gegen den Iran die Flucht nach vorne
antreten, um von dem ausweglos gewordenen Desaster im Irak abzulenken. Auch Sharon
befindet sich wegen der katastrophalen Folgen seiner Politik, die die Israelis bisher
verarmen ließ, ihnen jedoch keinen Frieden brachte, unter Legitimationsdruck. Angesichts
der unnachgiebigen Haltung fundamentalistischer Siedler in der Frage der Räumung
israelischer Siedlungen in Gaza steht Sharon eigentlich mit dem Rücken zur Wand. Das
Risiko, dass Bush und Sharon die Gefahren eines militärischen Angriffs gegen Irans
Atomanlagen aus innenpolitischen Beweggründen reichlich unterschätzen, ist gegenwärtig
ungemein groß. Israel handelte des öfteren jenseits des internationalen Rechts und
legitimierte "Präventivschläge", wenn Gefahr für Israels Sicherheit
ausgemacht wurde, so z.B. auch gegen Iraks Atomanlagen am 7. Juni 1981.
Chance für eine Neuorientierung der EU, gerade nach der Wiederwahl von George W. Bush
Man kann nur hoffen, dass dieses gefährliche Szenario nicht
eintritt. Die Ausgangsbedingungen dafür sind allerdings denkbar besorgniserregend. Durch
die IAEO-Resolution Ende November 2004 wurde der Konflikt nur vertagt. Selbst wenn sich
die gegenwärtige Machtelite Irans auf diesen Deal einließe, bliebe Irans
Sicherheitsdilemma weiterhin bestehen. Die EU spielte mit ihrem Zaudern im Grund genommen
den extremistischen Positionen und Motiven im Konflikt - den Konservativen Irans
einerseits, Bush und Sharon andererseits - buchstäblich in die Hände. Da beide Seiten
auf ihre Ziele pochen, der Iran auf ein eigenes Abschreckungspotential morgen oder
übermorgen gegen Israels atomare Vormachtstellung, und umgekehrt die USA und Israel
darauf, diese Vormachtstellung nicht aus der Hand zu geben, wird die Gefahr einer
Eskalation einschließlich eines neuen Krieges in naher Zukunft zum einzig möglichen
"Ausweg", der sich nahtlos in den US-Unilateralismus einfügt. Vor dem
Hintergrund dieser Analyse ist die Warnung des deutschen Außenministers, Joschka Fischer,
der Iran sollte sich vor einer "Fehleinschätzung der Reaktionen der internationalen
Gemeinschaft" hüten, entweder ein Beleg für die bedrückende Ratlosigkeit oder für
mangelnde Einsicht, dass die atomare Vormachtstellung Israels die gefährlichste
Alternaive darstellt, um Israels Existenzrecht zu sichern und Israels Bevölkerung
dauerhaft mehr Sicherheit zu gewähren.
Die EU und die deutsche Außenpolitik müssen zur Kenntnis nehmen, dass
ihre defensive Haltung die Unilateralisten in den USA eher stärkt. Die Frontlinien
verlaufen nicht - wie viele annehmen - zwischen den USA und Europa, sondern zwischen
Multilateralisten und Unilateralisten auf beiden Seiten des Atlantik. Europas
Multilateralismus hat somit in den USA einflussreiche Verbündete. Ein selbstbewusstes und
offensives Europa mit glaubwürdigen Konzepten zum Irak-Krieg, zum Nahost-Konflikt und zum
Konflikt mit dem Iran würde die aufrechten und arg in die Defensive geratenen
Multilateralisten in den Vereinigten Staaten sicher stärken. Schröders Ablehnung des
Irak-Krieges hat den verängstigten US-Multilateralisten nachweislich Mut gemacht, aus der
Deckung heraus zu kommen.[15] Auch jetzt
sehnen sich diese Kräfte in den USA nach Initiativen aus der EU, die ihnen innenpolitisch
Auftrieb geben. Daher wäre es analytisch falsch und politisch verhängnisvoll, die
eigenen Handlungsmöglichkeiten zu unterschätzen. Nichtstun in der Hängematte der
Ablehnung des Irak-Krieges mag sehr bequem sein, ist jedoch nicht nur defensiv, sondern
auch verantwortungslos. Die Chance muss gerade jetzt nach der Wiederwahl von George W.
Bush und der Gefahr eines fundamentalistischen Durchmarsches in den Vereinigten Staaten
vorsichtig, aber mit Konsequenz genutzt werden. Der Iran-Atomkonflikt bietet der EU die
Gelegenheit einer Neuorientierung in der Nah- und Mittelostpolitik.
Die EU ist gegenwärtig auch die einzige politische und noch wichtiger
moralische Kraft in der Weltpolitik, mit glaubwürdigen friedenspolitischen Alternativen,
das konfrontative Blatt der Geschichte im Mittleren und Nahen Osten zu wenden.
Glaubwürdigkeit gepaart mit Realitätssinn entwickelt eine politisch-legitimatorische
Dynamik, an der auch die matriarchalischsten und machthungrigsten Betonköpfe in den USA,
in Israel, aber auch im Iran nicht vorbei könnten. Die EU hat mit der OSZE eine Dynamik
in Gang gesetzt, die zur Beendigung des Ost-West-Konflikts maßgeblich beigetragen hat.
Jetzt steht in Anlehnung an diese Erfahrungen die Idee einer regionalen Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) auf der Agenda der
internationalen Diplomatie.
Das Ziel "Massenvernichtungswaffenfreie Zone" muss jetzt in den Vordergrund
gestellt werden
Nur die Aussicht auf Lösungen, die mit Kooperation, gemeinsamer
Sicherheit und Abrüstung auf die gegenwärtigen konfliktträchtigen Frontstellungen
reagieren, erweitern den Handlungsspielraum der Reformkräfte in der gesamten Region,
nicht nur im Iran, sondern auch in Israel selbst, um für eine bessere Alternative zu
Sharons aussichtsloser Politik auch innenpolitische Mehrheiten zu mobilisieren. Politische
Positionen in allen Staaten der Region sind veränderbar, wenn plausible
Friedensalternativen nicht tabuisiert, sondern hartnäckig vorangetrieben werden.
Spätestens jetzt, nachdem die gegenwärtige Nahostpolitik mit der
Roadmap gescheitert ist und erkennbar wird, dass sie auch im Atomstreit mit dem Iran zum
Scheitern verurteilt ist, müsste in Richtung einer regionalen Konferenz für Sicherheit
und Zusammenarbeit nicht nur geredet, sondern gehandelt werden. Die Ziele dieser
Alternativen müssten dazu tatsächlich auch im Zentrum stehen und nicht - wie bisher -
von unerreichbaren Bedingungen abhängig gemacht werden. Das Scheitern der Roadmap und der
Iranpolitik der EU - hier ist eine bemerkenswerte Parallelität festzustellen - war nicht
zuletzt auch wegen falscher Prioritäten vorprogrammiert: In der Roadmap wird das zentrale
Ziel der Zweistaatenregelung nach mehreren Stufen vom Ende der palästinensischen
Terrorangriffe als allererstem Schritt abhängig gemacht. Dadurch wird das eigentliche
Ziel, die Zweistaatenregelung, zur Geisel aller extremistischen Strömungen, wie der Hamas
in Palästina und der rechten Zionisten in Israel, die dieses Ziel bis aufs Messer
bekämpfen. Die nicht enden wollende Gewalteskalation belegt es. - Von der Roadmap redet
inzwischen niemand mehr. Auch im Streit um Irans Atomanlagen soll zuallererst der Iran zum
Verzicht auf den Zugriff zu Atomwaffen verpflichtet werden, die atomare Vormachtstellung
Israels jedoch weiterhin unangetastet bleiben. Das Ziel einer atomwaffen- besser noch
massenvernichtungswaffenfreien Zone wird dagegen zu einer puren Phrase, wenn es - wie z.B.
in der Teheraner Erklärung vom Oktober 2003 - ganz unverbindlich und nur beiläufig
erwähnt wird.
Der Versuch den Opfern, z. B. der israelischen Besatzung in Palästina
oder dem atomar bedrohten Iran, einseitige Handlungen aufzuoktroyieren, widerspricht allen
Konflikt entschärfenden Methoden und Erkenntnissen, da dies von der unterlegenen Seite
als Unrecht empfunden wird und wohl auch so empfunden werden muss. Daraus kann nur die
Verschärfung des Konfliktes hervorgehen, nicht jedoch dessen Bewältigung. Für eine
falsche Prioritätensetzung der EU könnten Irans Hardliner nur dankbar sein, denn dann
verfügten sie mit dem Feindbild "der Westen will mit allen Mitteln den Islam
vernichten" über ein wirksames Instrument, um - bei einem neuen und auch
wahrscheinlichen Streit mit der IAEO - innenpolitisch einen konfrontativen Kurs, der den
Ausbau des Atomprogramms und den Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag einschließt,
durchzusetzen und die "Balance of Power" mit eigenen Atomwaffen herzustellen. In
der kooperativen und friedlichen Alternative "Abrüstung und
massenvernichtungswaffenfreie Zone" würde es dagegen für Fundamentalismus und
Nationalismus keinen Platz mehr geben, am wenigsten im Iran. Vielmehr dürfte dies der
Demokratisierung im Mittleren und Nahen Osten kräftigen Vorschub geben.
Die EU erreicht mit ihrer Politik der Ausklammerung der Konfliktkerne
sowohl im Palästina-Konflikt gerade nach dem entstandenen Machtvakuum und der Chance
eines Neubeginns nach Arafat wie im Iran-Streit genau das Gegenteil einer friedvollen
Perspektive. Was hat die EU - diese Frage muss an dieser Stelle gestellt werden -
eigentlich vor? Verfolgt sie das Ziel, die atomare Vormachtstellung Israels nicht
anzutasten, dann liefert sie für die amerikanische Drohkulisse die moralische
Legitimation mit vorprogrammierten katastrophalen Folgen: neuer Flächenbrand, weiterer
Auftrieb für Nationalismus und Fundamentalismus und kein Frieden im Mittleren und Nahen
Osten für sehr sehr lange Zeiten. Beging sie in ihrer Nahost- und Iran-Politik bisher
einen Kardinalfehler, dann sollte dieser schleunigst korrigiert werden.
Für die EU hieße das erstens, Israels Atomwaffenarsenale nicht
länger zu tabuisieren und das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren
und Nahen Osten sofort auf die Agenda der internationalen Diplomatie zu setzen - was
gerade angesichts des Machtvakuums nach Arafat und der Chance eines Neubeginns auch für
den Nahost-Konflikt eine neue und dynamische Perspektive eröffnen dürfte - und es als
eine der vordringlichsten Aufgaben einzustufen. Und zweitens die Konfliktparteien
gleichermaßen aufzufordern, sich diesem Ziel verbindlich zu verpflichten. Alle weiteren
Ziele, darunter Israels Sicherheit, Irans Verzicht auf Atomwaffentechnologien und die
Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates, ordnen sich dann dieser
Prioritätenabfolge unter. Diese Neuorientierung dürfte im Fall einer Aussetzung der
Urananreicherung im Iran nicht auf die lange Bank geschoben werden. Die entstandene
Atempause müsste vielmehr als Chance begriffen werden, unmittelbar den nächsten Schritt
einzuleiten, anstatt sich auf den Lorbeeren eines Kompromisses auszuruhen, der
zerbrechlich ist.
ist gebürtiger Iraner, lehrt
Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und forscht u. a. über
Konfliktstrukturen und Friedensperspektiven im Mittleren und Nahen Osten
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