gekürzte Fassung dieses Artikels
25. November 2004


Der Atomstreit mit dem Iran
Chancen für eine neue EU-Mittel- und Nahostpolitik

von Mohssen Massarrat

Die drei EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England haben Mitte November mit dem Iran eine Absichtserklärung vereinbart. Darin verpflichtet sich der Iran, die Urananreicherung nur solange auszusetzen bis die Vereinbarungen mit der EU Vertragsform angenommen haben. Im Gegenzug erklärten sich die drei EU-Staaten u. a. bereit, Irans Beitritt in die WTO aktiv zu unterstützen, auf nuklearem Gebiet zusammenzuarbeiten und Iran eindeutige Sicherheitsgarantien zu gewähren.

Damit ist der Konflikt nicht gelöst, sondern - unabhängig davon, wie sich die Internationale Atomenergie Organisation (IAEO) in Wien entscheidet - nur aufgeschoben. Der Iran will sich das Recht auf Urananreicherung grundsätzlich vorbehalten, alle maßgeblichen Institutionen des Landes, das Parlament, der Staatspräsident und der Revolutionsführer legten sich längst darauf fest. Der nachträgliche Wunsch Irans, eine geringe Anzahl von Gaszentrifugen von der Suspendierung auszunehmen, soll dieses Recht unterstreichen. Die Verhandlungen der EU-Troika mit dem Iran bewegte sich von Anfang an auf einem Holzweg. Beide Seiten versteckten sich hinter dem Atomwaffensperrvertrag. Die EU gibt vor, Iran auf die Einhaltung dieses Vertrages zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen verpflichten zu wollen. Und der Iran beteuert unentwegt, mit dem ehrgeizigen Atomprogramm und in Übereinstimmung mit jenem Vertrag den künftigen Strombedarf decken zu wollen. Beide Seiten stecken den Kopf in den Sand, täuschen sich selbst und die Weltöffentlichkeit und mogeln sich um den eigentlichen Konfliktkern herum.

Israel fühlte sich mit seiner Bevölkerung von ca. 6 Millionen inmitten von über 200 Millionen Arabern und Moslems schon immer bedroht und beschloß bereits in den fünfziger Jahren, dem demographischen Ungleichgewicht gemäß der herrschenden Lehre von Balance of Power eigene Atomwaffen entgegenzusetzen. Dadurch setzte es - gewollt oder ungewollt - eine Eskalation des nuklearen Wettrüstens in der Region überhaupt erst in Gang. Alle Regionalstaaten, die etwas von sich hielten, zunächst Ägypten, dann der Irak und jetzt der Iran, wurden zur Aufrüstung regelrecht getrieben.

Der Iran mit über 65 Millionen Einwohnern und seiner geostrategisch zentralen Lage im Zentrum des Greater Middle East kann - völlig unabhängig von der jeweiligen politischen Ordnung - auf Dauer die atomare Bedrohung Israels nicht hinnehmen. Daher wollen Irans Machthaber Atomwaffen, um - ebenfalls gemäß der Balance of Power - das "Gleichgewicht des Schreckens" herzustellen. Sie handeln damit ganz und gar "westlich rational".

Die EU, allen voran die deutsche Seite, nimmt das Sicherheitsbedürfnis Irans offenbar nicht ernst und verhält sich - Basarmentalität hin, Basarmentalität her - genau so wie der Iran. Sie setzt auf den Kuhhandel: wirtschaftliche Anreize gegen den dauerhaften Verzicht auf Urananreicherung, im Klartext: Hinnahme nuklearer Vormachtstellung Israels, ganz im Sinne von USA und Israel. Es ist nicht zu fassen: Außenpolitiker von internationalem Rang benehmen sich wie schlechte Pädagogen, die Drohung von Außenminister Fischer, Iran sollte sich vor einer "Fehleinschätzung der Reaktionen der internationalen Gemeinschaft hüten", belegt die Ratlosigkeit oder mangelnde Einsicht, dass die atomare Vormachtstellung Israels die gefährlichste Alternative ist, Israel mehr Sicherheit zu gewähren.

Die US-Globalpolitik der Vorherrschaft und des double standard im Mittleren und Nahen Osten hat den Nahostkonflikt verschärft, das Desaster im Irak verursacht und ist im Begriff, einen neuen Krieg gegen den Iran heraufzubeschwören. Die EU und Deutschland stehen vor einem historischen Scheideweg: entweder sich weiterhin innerhalb der Sackgasse der US-Mittel- und Nahostpolitik zu bewegen und die Lasten der Unglaubwürdigkeit dieser Politik mit den Vereinigten Staaten zu teilen oder zu einer eigenständigen und zukunftsweisenden Mittel- und Nahostpolitik zu finden, die Zeit dazu ist jedenfalls so reif wie nie zuvor.

Die Frontlinien verlaufen nicht - wie viele annehmen - zwischen USA und Europa, sondern zwischen Multilateralisten und Unilateralisten auf beiden Seiten des Atlantiks. Europas Multilateralismus hat somit in den USA einflussreiche Verbündete. Eine selbstbewusste und offensive Haltung der EU mit glaubwürdigen Konzepten zum Irak-Krieg, zum Nahost-Konflikt und zum Konflikt mit dem Iran würde diese Kräfte ganz sicher stärken, eigentlich sehnen sie sich nach zukunftsweisenden Initiativen aus Europa. Es wäre für Europa daher verhängnisvoll, eigene Handlungsmöglichkeiten zu unterschätzen. Nichtstun in der Hängematte der Ablehnung des Irak-Krieges mag sehr bequem sein, ist jedoch nicht nur defensiv, vielmehr verantwortungslos. Die Chance muss gerade jetzt nach der Wiederwahl von George W. Bush vorsichtig, aber mit Konsequenz genutzt werden.

Das Moratorium mit dem Iran und das Machtvakuum in Palästina bietet der EU die Gelegenheit zu einer Neuorientierung. Dies bedeutet die Abkehr von der Politik der falschen Prioritäten: Ziele, wie eine massenvernichtungswaffenfreie Zone und die Gründung eines palästinensischen Staates, die für einen dauerhaften Frieden und die Demokratisierung der gesamten Region so zentral sind, dürften nicht einzig von einem Ende des palästinensischen Terrors gegen Israel abhängig gemacht werden. Damit werden diese so entscheidenden Ziele geradezu zur Geisel extremistischer Kräfte beider Seiten, die all das vehement bekämpfen. Die Neuorientierung hieße für die EU: erstens Israels Atomwaffenarsenale nicht länger zu tabuisieren und das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten sofort auf die Agenda internationaler Diplomatie zu setzen und es auch zur vordringlichsten Aufgabe zu erklären - die Arabische Liga hat sich bereits im September bei der IAEO vehement dafür eingesetzt - und zweitens die Konfliktparteien, d. h. Israel, Iran und alle anderen Regionalstaaten aufzufordern, sich diesem Ziel verbindlich zu verpflichten. Alle weiteren Ziele, darunter Israels Sicherheit, Verzicht Irans auf Atomwaffentechnologien und Schaffung eines palästinensischen Staates, ordnen sich dann dieser Prioritätenabfolge unter. Diese Perspektie stärkt nicht nur die Multilateralisten in den USA, sondern auch die Reform- und Friedenskräfte im gesamten Mittleren und Nahen Osten, nicht zuletzt auch in Israel.


 

ist gebürtiger Iraner, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und forscht u. a. über Konfliktstrukturen und Friedensperspektiven im Mittleren und Nahen Osten