Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
27. Dezember 2009


ISAF-Einsatz mit Kampfmandat

wie sich die Bundeswehr-Mission am Hindukusch heimlich zum Kriegseinsatz gewandelt hat

Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski

Spätestens seit dem verheerenden Luftangriff bei Kundus mit bis zu 142 Toten ist es nicht mehr zu übersehen: Die Bundeswehr befindet sich in Afghanistan in einem Krieg. Ein Umstand, der jahrelang beschönigt wurde – ja vom Verteidigungsministerium während der Amtszeit von Franz Josef Jung ausdrücklich bestritten worden ist. Die Mission am Hindukusch basiert auf einem Lügengebäude, wie die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG kürzlich feststellte. Ein Lügengebäude, das jetzt zusammengefallen ist.

Das Entsetzen in der Öffentlichkeit und im Parlament ist groß. Man fühlt sich hinters Licht geführt. Inzwischen wissen wir: Selbst nach dem Luftangriff vom 4. September wurden viele Informationen zurückgehalten. Möglicherweise auch vor dem Hintergrund der drei Wochen später anstehenden Bundestagswahl. Der nun eingerichtete Untersuchungsausschuss soll Licht in das Dunkel bringen. Ohne dem Gremium vorzugreifen lässt sich eines schon jetzt sagen: Der Umgang der Bundesregierung mit dem Luftangriff hat das Ansehen der Bundeswehr schwer geschädigt. Das Vertrauen der Öffentlichkeit und auch der Soldaten in die politische und militärische Führung ist dramatisch gesunken. Dieser Vertrauensverlust wird erhebliche Auswirkungen haben – beispielsweise bei der Rekrutierung von Freiwilligen. Die schon jetzt vorhandene Kluft zwischen Streitkräften und Gesellschaft wird sich weiter vergrößern. Der öffentliche Druck, den Afghanistan-Einsatz schon bald zu beenden, wird steigen.

Die Bundesregierung erhält nun die Quittung dafür, dass sie der Bevölkerung über die Bundeswehr-Mission am Hindukusch keinen reinen Wein eingeschenkt hat. Das ISAF-Mandat soll die afghanische Regierung unterstützen und für Sicherheit im Land sorgen. Die Vereinten Nationen haben die Truppensteller ermächtigt, dazu alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt. Letzteres ist in den vergangenen Jahren von der Bundesregierung aber regelrecht verschleiert worden. Stattdessen pflegte man das unrealistische Bild der Bundeswehr als Aufbauhelfer und Brunnenbohrer. Das passte nämlich besser in die innenpolitische Landschaft. Auf der einen Seite das „gute Mandat“: der ISAF-Einsatz als reine Stabilisierungs- und Aufbaubaumission. Und auf der anderen Seite das Kampfmandat - die Anti-Terror-Operation Enduring Freedom. Eine Vermischung oder eine Zusammenlegung von OEF und ISAF hat die Bundesregierung immer entschieden abgelehnt. Beharrt wurde auf einer strikten Trennung. Selbst bei den bewaffneten Gegnern versuchte man feinsinnig zu unterschie¬den. OEF bekämpft Terroristen, die ISAF Aufständische. Der deutsche General Bruno Kasdorf vor zwei Jahren - damals ISAF-Stabschef:

O-Ton Kasdorf
„Die Taliban sind ja nach dieser Definition Aufständische, Umstürzler. Das sind diejenigen, mit denen wir vor allem zu tun haben.“

In der Praxis war aber schon damals eine Unterscheidung kaum möglich. Es ist daher auch kein Zufall, dass ISAF und OEF seit mehr als zwei Jahren gemeinsame Rules of Engagement haben, also gleichlautende Einsatzregeln. Heute sind die Grenzen noch mehr verschwommen. Zur Erinnerung: Einst war das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, das KSK, unter dem Anti-Terror-Mandat OEF eingesetzt worden, um in Afghanistan Jagd auf Al Qaida-Kämpfer zu machen. Wenig erfolgreich, wie der Kurnaz-Untersuchungsausschuss festgestellt hat. Es wurde kein Schuss abgegeben, stattdessen machte die Elite-Truppe durch Alkohol-Exzesse von sich reden.

Nicht zuletzt nach mehreren US-Luftangriffen, bei denen auch zahlreiche Zivilisten getötet worden sind, wurde vor zwei Jahren in Deutschland der Ruf immer lauter, aus der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom auszusteigen. Durchaus machbar, sagte damals der deutsche NATO-General Egon Ramms. Er ist im niederländischen Brunssum Befehlshaber des NATO-Kommandos, das für Afghanistan zuständig ist. Der Vier-Sterne-General schlug vor, das KSK aus OEF herauszulösen und unter das ISAF-Mandat zu stellen. Ramms’ Begründung:

O-Ton Ramms
„Das ISAF-Mandat reicht auch von Kampf, Kampf gegen Aufständische beispielsweise, bis zum Wiederaufbau. Das heißt, das Spektrum ist unter diesem Mandat deutlich breiter, als es vielleicht in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt wird, in der Diskussion auch abgebildet wird. … Man kann sich dazu entscheiden ..., sich aus dem Antiterrorkampf zu verabschieden, damit aus OEF auszusteigen und sich ausschließlich ISAF anzuschließen und dort auch beispielsweise Spezialkräfte unter dem Mandat von ISAF zur Verfügung zu stellen. Das wäre eine Handlungsmöglichkeit für die Bundesregierung, die vielleicht die Entscheidungssituation bei uns im Deutschen Bundestag vereinfachen würden.“

Dieser Vorstoß im September 2007 brachte General Ramms viel Ärger ein. Auf Druck des Berliner Verteidigungsministeriums musste Ramms seine Äußerung in einer eilig verfassten Pressemitteilung zurücknehmen. Auch Generalinspekteur Schneiderhan kritisierte seinen NATO-Kameraden.

Doch wenig später kam dann doch alles so, wie der NATO-Befehlshaber Ramms angeregt hatte. Seit rund zwei Jahren operiert das KSK in Nord-Afghanistan - diesmal unter dem ISAF-Mandat. Der Auftrag lautet, nicht nur Aufständische festzusetzen. Es sollen auch weiterhin Terroristen ins Visier genommen werden. Bisher durfte man das offiziell nur unter dem OEF-Mandat. Der damalige Verteidigungsminister Jung zur Rolle des Kommandos Spezialkräfte nach dem angekündigten Ausstieg aus der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom :

O-Ton Jung
„Das heißt aber nicht, dass die Elitesoldaten aus Afghanistan abgezogen werden, weil sie auch zur Terrorbekämpfung im Rahmen des ISAF-Mandates einsetzbar sind.“

An die große Glocke hängen wollte man das aber nicht. Denn diese Aktivitäten passten nicht in das Bild einer eher friedlichen Stabilisierungsmission, das die Bundesregierung gerne der Öffentlichkeit vermittelte. Dieses Bild bekam Risse, als die Bundeswehr im vergangenen Jahr notgedrungen den schnellen Eingreifverband für den Norden stellen musste. Die Quick Reaction Force, kurz QRF, war mehrere Jahre von Norwegern gestellt worden. Dieser rund 200 Soldaten starke Verband ist eine taktische Reserve, eine Art Feuerwehr, die überall dort eingreifen muss, wo es brenzlig wird. Die Skandinavier waren an mehreren Offensiven gegen Aufständische in Nordafghanistan beteiligt. Dabei kam es zu heftigen Kämpfen. Die Öffentlichkeit erfuhr davon allerdings wenig. Für den eilig aufgestellten deutschen QRF-Verband verlegte die Bundeswehr Mörser, Panzerabwehr-Raketen und Schützenpanzer an den Hindukusch. Obwohl die Truppe auch offensiv vorgehen sollte, wollte die Bundeswehr-Führung aber von einer neuen Qualität des Einsatzes nichts wissen. Es sollten weiterhin die defensiven Einsatzregeln gelten. Wann von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden darf, ist in einer Taschenkarte festgehalten, die die Soldaten bei sich tragen. Ihr Tenor: Die Schusswaffe darf nur eingesetzt werden, wenn die Soldaten direkt angegriffen werden.

Wie aber kann der Eingreifverband mit defensiven Einsatzregeln Offensiv-Operationen durchführen? Kritiker im Verteidigungsausschuss hielten die in der Taschenkarte festgehalten Regeln für die deutsche QRF und auch für alle anderen Bundeswehr-Soldaten für unbrauchbar. Der FDP-Vereidigungspolitiker Rainer Stinner forderte damals eine schnelle Änderung:

O-Ton Stinner
„In der Taschenkarte ist enthalten, dass vor Einsatz von Schusswaffen der potenzielle Gegner angerufen werden muss, auf Englisch, auf Dari oder Paschto, also die beiden Landessprachen. Das heißt also, dass ich vorher sagen muss: Halt, Stopp, hier NATO - nicht weitergehen. Das ist im Rahmen der Aufträge, die unsere Soldaten machen, und zunehmend auch im Rahmen der QRF dann machen werden, völlig unpraktikabel. Das sehen Sie schon daran, dass wir zum Beispiel Mörserwaffen nach Afghanistan bringen, die eine Reichweite von vier Kilometern haben. Wie können Sie dort noch diese Regel, dass vorher angerufen werden muss, einsetzen? - Völlig unpraktikabel.“

Der damalige Verteidigungsminister Jung lehnte eine Änderung der Einsatzregeln aber ab. Unterstützt wurde er von Generalinspekteur Schneiderhan:

O-Ton Schneiderhan
„Wir haben in Afghanistan einen Erfolg erzielt, wenn auch nur in den Gebieten, in denen wir sind. Und ich sehe keinen Grund, aufgrund einer völlig theoretischen Diskussion in Deutschland Taschenkarten für Soldaten ändern zu müssen. Ich sehe keinen militärischen Grund dafür.“

Schneiderhan vor mehr als einem Jahr bei der Verabschiedung der Quick Reaction Force nach Afghanistan.

Doch die Lage im Norden wurde immer gefährlicher. Die Anschläge auf die Bundeswehr nahmen zu. Patrouillen wurden immer öfter in Hinterhalte gelockt und angegriffen. Die Soldaten sahen sich in einem Krieg. Für das Verteidigungsministerium aber war der Einsatz weiterhin eine Stabilisierungsmission. Im Oktober vergangenen Jahres sprach Verteidigungsminister Jung auf der Trauerfeier für zwei getötete Soldaten in Zweibrücken dann erstmals von Gefallenen. Eine Konzession an die eigene Truppe, in der der Unmut über die Wortwahl zunahm. Das Wort Krieg lehnte der CDU-Politiker aber weiterhin ab.

Die Lage in Kundus spitzte sich jedoch immer mehr zu. Vor diesem Hintergrund hat die Bundeswehr im April mehrere bei der NATO angemeldete Selbstbeschränkungen bei den Einsatzregeln aufgegeben. Die Rede ist von den Rules of Engagement 423 bis 429. Sie erlauben u.a. Angriffe auf Personen und Gruppen, die die Bewegungsfreiheit der ISAF-Truppen einschränken. Die Bundeswehr gab damit bei den Einsatzregeln ihren bisherigen Grundsatz auf, militärische Mittel nur zur unmittelbaren Selbstverteidigung einzusetzen. Die Öffentlichkeit erfuhr von dieser Weichenstellung allerdings nichts.

Im Juli wurde jedoch bekannt, dass die Taschenkarten für die Bundeswehr-Soldaten geändert worden sind. Das Verteidigungsministerium sprach von einer Anpassung und Vereinfachung. Von einer grundsätzlichen Neuerung wollte man nichts wissen. Allerdings ist jetzt laut Taschenkarte vor dem Schusswaffengebrauch nicht mehr in jedem Fall eine Warnung oder ein Anruf notwendig. Nur noch dann, wenn es die Lage zulässt. Die deutschen Soldaten müssen also nicht mehr warten, bis sie angegriffen werden. Sie können ggf. auch präventiv ihre Waffen gegen einen möglichen Gegner einsetzen.

Verteidigungsminister zu Guttenberg spricht seit seinem Amtsantritt von kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan. Anders als sein Vorgänger räumt er ein, dass es am Hindukusch einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt gibt. Danach gilt dort das humanitäre Völkerrecht. Das hat auch für die Soldaten Konsequenzen. Zu Guttenberg kritisierte in diesem Zusammenhang auch Franz Josef Jung und die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigungsministeriums:

O-Ton zu Guttenberg bei Beckmann
„Es gibt seit Monaten über die sogenannte Taschenkarte, die Soldaten mit sich führen, die Möglichkeit, aktiv-offensiv gegen Taliban beispielsweise vorzugehen in engen, klaren Kriterien, die auch die Verhältnismäßigkeit mit beinhalten müssen. … Ich würde es, was immer geboten ist, auch notwendige Anpassung an Realitäten nennen. Das Problem ist nur, dass wir die Realitäten allzu oft verschwiegen haben, was Afghanistan anbelangt. Wir müssen sehr viel deutlicher werden; die Menschen verstehen in unserem Land sehr viel besser, was sich dort abspielt, als wir es politisch gelegentlich kommuniziert haben… Die Bundeswehr hat zumindest entgegen manchem politisch kommunizierten Bild, insbesondere aus Teilen der Opposition dieser Tage, bereits vor dem vierten September mehr Möglichkeiten gehabt, auch des Vorgehens, als es manche darstellen.“

Auch für Völkerrechtler ist es schon längst keine Frage mehr, dass es in Afghanistan einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt gibt, also einen Krieg. Die Aufständischen sind danach legitime militärische Ziele, die angegriffen werde können, auch wenn sie keine Kombattanten sind. Stefan Oeter, Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg:

O-Ton Oeter
„Die Aufständischen sind statusmäßig eigentlich Teile der Zivilbevölkerung. Es gibt eine Ausnahmeregelung, dass Zivilpersonen, die unmittelbar an Feindseligkeiten beteiligt sind, die also im Grunde mit Waffengewalt gegen die Regierung kämpfen, dass die im Grunde aus dem Schutz der Zivilbevölkerung ausgeklammert sind und gezielt getötet werden dürfen. Also insofern kann man sagen, dass sie von der negativen Seite her den Kombattanten gleichgestellt werden. Aber es gibt nicht die positive Seite des Kombattantenstatus, dass sie selbst im Grunde das Privileg der Straffreiheit hätten für ihre Gewalthandlungen.“

Die Bundeswehr steht also in Afghanistan in einem Krieg. Für die Öffentlichkeit eine überraschende Erkenntnis. Denn jahrelang sind vom Verteidigungsministerium Nebelkerzen geworfen worden. Erst nach dem Luftangriff bei Kundus ist der breiten Öffentlichkeit die wirkliche Rolle der Bundeswehr am Hindukusch deutlich geworden.

Inzwischen sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, die deutschen Truppen sehr schnell mit schweren Waffen zu verstärken. Die Start- und Landebahn in Mazar-i-Scharif wurde erneuert, so dass sie nun auch von den schweren russisch-ukrainischen Transportmaschinen vom Typ Antonow 124 genutzt werden können. Die Transporter können jeweils 120 Tonnen Nutzlast tragen. Die Bundeswehr hat sich vertraglich den Zugriff auf diese Flugzeuge gesichert. Zum Jahreswechsel sollen weitere fünf Schützenpanzer an den Hindukusch verlegt werden. Der Transport dauert nur wenige Stunden. Nicht ausgeschlossen ist, dass demnächst auch noch Artillerie und anderes schweres Gerät in den Norden verlegt werden. Die neue Startbahn ist aber keine Einbahnstraße. Sie kann auch einen Rückzug leichter und einfacher machen.


Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.