ISAF-Einsatz mit Kampfmandat
wie sich die Bundeswehr-Mission am Hindukusch heimlich zum Kriegseinsatz
gewandelt hat
Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski
Spätestens seit dem verheerenden Luftangriff bei Kundus mit bis
zu 142 Toten ist es nicht mehr zu übersehen: Die Bundeswehr befindet
sich in Afghanistan in einem Krieg. Ein Umstand, der jahrelang beschönigt
wurde – ja vom Verteidigungsministerium während der Amtszeit von
Franz Josef Jung ausdrücklich bestritten worden ist. Die Mission
am Hindukusch basiert auf einem Lügengebäude, wie die SÜDDEUTSCHE
ZEITUNG kürzlich feststellte. Ein Lügengebäude, das jetzt
zusammengefallen ist.
Das Entsetzen in der Öffentlichkeit und im Parlament ist groß.
Man fühlt sich hinters Licht geführt. Inzwischen wissen wir:
Selbst nach dem Luftangriff vom 4. September wurden viele Informationen
zurückgehalten. Möglicherweise auch vor dem Hintergrund der
drei Wochen später anstehenden Bundestagswahl. Der nun eingerichtete
Untersuchungsausschuss soll Licht in das Dunkel bringen. Ohne dem Gremium
vorzugreifen lässt sich eines schon jetzt sagen: Der Umgang der Bundesregierung
mit dem Luftangriff hat das Ansehen der Bundeswehr schwer geschädigt.
Das Vertrauen der Öffentlichkeit und auch der Soldaten in die politische
und militärische Führung ist dramatisch gesunken. Dieser Vertrauensverlust
wird erhebliche Auswirkungen haben – beispielsweise bei der Rekrutierung
von Freiwilligen. Die schon jetzt vorhandene Kluft zwischen Streitkräften
und Gesellschaft wird sich weiter vergrößern. Der öffentliche
Druck, den Afghanistan-Einsatz schon bald zu beenden, wird steigen.
Die Bundesregierung erhält nun die Quittung dafür, dass sie
der Bevölkerung über die Bundeswehr-Mission am Hindukusch keinen
reinen Wein eingeschenkt hat. Das ISAF-Mandat soll die afghanische Regierung
unterstützen und für Sicherheit im Land sorgen. Die Vereinten
Nationen haben die Truppensteller ermächtigt, dazu alle erforderlichen
Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Anwendung militärischer
Gewalt. Letzteres ist in den vergangenen Jahren von der Bundesregierung
aber regelrecht verschleiert worden. Stattdessen pflegte man das unrealistische
Bild der Bundeswehr als Aufbauhelfer und Brunnenbohrer. Das passte nämlich
besser in die innenpolitische Landschaft. Auf der einen Seite das „gute
Mandat“: der ISAF-Einsatz als reine Stabilisierungs- und Aufbaubaumission.
Und auf der anderen Seite das Kampfmandat - die Anti-Terror-Operation
Enduring Freedom. Eine Vermischung oder eine Zusammenlegung von OEF und
ISAF hat die Bundesregierung immer entschieden abgelehnt. Beharrt wurde
auf einer strikten Trennung. Selbst bei den bewaffneten Gegnern versuchte
man feinsinnig zu unterschie¬den. OEF bekämpft Terroristen, die
ISAF Aufständische. Der deutsche General Bruno Kasdorf vor zwei Jahren
- damals ISAF-Stabschef:
O-Ton Kasdorf
„Die Taliban sind ja nach dieser Definition Aufständische, Umstürzler.
Das sind diejenigen, mit denen wir vor allem zu tun haben.“
In der Praxis war aber schon damals eine Unterscheidung kaum möglich.
Es ist daher auch kein Zufall, dass ISAF und OEF seit mehr als zwei Jahren
gemeinsame Rules of Engagement haben, also gleichlautende Einsatzregeln.
Heute sind die Grenzen noch mehr verschwommen. Zur Erinnerung: Einst war
das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, das KSK, unter dem Anti-Terror-Mandat
OEF eingesetzt worden, um in Afghanistan Jagd auf Al Qaida-Kämpfer
zu machen. Wenig erfolgreich, wie der Kurnaz-Untersuchungsausschuss festgestellt
hat. Es wurde kein Schuss abgegeben, stattdessen machte die Elite-Truppe
durch Alkohol-Exzesse von sich reden.
Nicht zuletzt nach mehreren US-Luftangriffen, bei denen auch zahlreiche
Zivilisten getötet worden sind, wurde vor zwei Jahren in Deutschland
der Ruf immer lauter, aus der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom auszusteigen.
Durchaus machbar, sagte damals der deutsche NATO-General Egon Ramms. Er
ist im niederländischen Brunssum Befehlshaber des NATO-Kommandos,
das für Afghanistan zuständig ist. Der Vier-Sterne-General schlug
vor, das KSK aus OEF herauszulösen und unter das ISAF-Mandat zu stellen.
Ramms’ Begründung:
O-Ton Ramms
„Das ISAF-Mandat reicht auch von Kampf, Kampf gegen Aufständische
beispielsweise, bis zum Wiederaufbau. Das heißt, das Spektrum
ist unter diesem Mandat deutlich breiter, als es vielleicht in der Bundesrepublik
Deutschland dargestellt wird, in der Diskussion auch abgebildet wird.
… Man kann sich dazu entscheiden ..., sich aus dem Antiterrorkampf zu
verabschieden, damit aus OEF auszusteigen und sich ausschließlich
ISAF anzuschließen und dort auch beispielsweise Spezialkräfte
unter dem Mandat von ISAF zur Verfügung zu stellen. Das wäre
eine Handlungsmöglichkeit für die Bundesregierung, die vielleicht
die Entscheidungssituation bei uns im Deutschen Bundestag vereinfachen
würden.“
Dieser Vorstoß im September 2007 brachte General Ramms viel Ärger
ein. Auf Druck des Berliner Verteidigungsministeriums musste Ramms seine
Äußerung in einer eilig verfassten Pressemitteilung zurücknehmen.
Auch Generalinspekteur Schneiderhan kritisierte seinen NATO-Kameraden.
Doch wenig später kam dann doch alles so, wie der NATO-Befehlshaber
Ramms angeregt hatte. Seit rund zwei Jahren operiert das KSK in Nord-Afghanistan
- diesmal unter dem ISAF-Mandat. Der Auftrag lautet, nicht nur Aufständische
festzusetzen. Es sollen auch weiterhin Terroristen ins Visier genommen
werden. Bisher durfte man das offiziell nur unter dem OEF-Mandat. Der
damalige Verteidigungsminister Jung zur Rolle des Kommandos Spezialkräfte
nach dem angekündigten Ausstieg aus der Anti-Terror-Operation Enduring
Freedom :
O-Ton Jung
„Das heißt aber nicht, dass die Elitesoldaten aus Afghanistan
abgezogen werden, weil sie auch zur Terrorbekämpfung im Rahmen
des ISAF-Mandates einsetzbar sind.“
An die große Glocke hängen wollte man das aber nicht. Denn
diese Aktivitäten passten nicht in das Bild einer eher friedlichen
Stabilisierungsmission, das die Bundesregierung gerne der Öffentlichkeit
vermittelte. Dieses Bild bekam Risse, als die Bundeswehr im vergangenen
Jahr notgedrungen den schnellen Eingreifverband für den Norden stellen
musste. Die Quick Reaction Force, kurz QRF, war mehrere Jahre von Norwegern
gestellt worden. Dieser rund 200 Soldaten starke Verband ist eine taktische
Reserve, eine Art Feuerwehr, die überall dort eingreifen muss, wo
es brenzlig wird. Die Skandinavier waren an mehreren Offensiven gegen
Aufständische in Nordafghanistan beteiligt. Dabei kam es zu heftigen
Kämpfen. Die Öffentlichkeit erfuhr davon allerdings wenig. Für
den eilig aufgestellten deutschen QRF-Verband verlegte die Bundeswehr
Mörser, Panzerabwehr-Raketen und Schützenpanzer an den Hindukusch.
Obwohl die Truppe auch offensiv vorgehen sollte, wollte die Bundeswehr-Führung
aber von einer neuen Qualität des Einsatzes nichts wissen. Es sollten
weiterhin die defensiven Einsatzregeln gelten. Wann von der Schusswaffe
Gebrauch gemacht werden darf, ist in einer Taschenkarte festgehalten,
die die Soldaten bei sich tragen. Ihr Tenor: Die Schusswaffe darf nur
eingesetzt werden, wenn die Soldaten direkt angegriffen werden.
Wie aber kann der Eingreifverband mit defensiven Einsatzregeln Offensiv-Operationen
durchführen? Kritiker im Verteidigungsausschuss hielten die in der
Taschenkarte festgehalten Regeln für die deutsche QRF und auch für
alle anderen Bundeswehr-Soldaten für unbrauchbar. Der FDP-Vereidigungspolitiker
Rainer Stinner forderte damals eine schnelle Änderung:
O-Ton Stinner
„In der Taschenkarte ist enthalten, dass vor Einsatz von Schusswaffen
der potenzielle Gegner angerufen werden muss, auf Englisch, auf Dari
oder Paschto, also die beiden Landessprachen. Das heißt also,
dass ich vorher sagen muss: Halt, Stopp, hier NATO - nicht weitergehen.
Das ist im Rahmen der Aufträge, die unsere Soldaten machen, und
zunehmend auch im Rahmen der QRF dann machen werden, völlig unpraktikabel.
Das sehen Sie schon daran, dass wir zum Beispiel Mörserwaffen nach
Afghanistan bringen, die eine Reichweite von vier Kilometern haben.
Wie können Sie dort noch diese Regel, dass vorher angerufen werden
muss, einsetzen? - Völlig unpraktikabel.“
Der damalige Verteidigungsminister Jung lehnte eine Änderung der
Einsatzregeln aber ab. Unterstützt wurde er von Generalinspekteur
Schneiderhan:
O-Ton Schneiderhan
„Wir haben in Afghanistan einen Erfolg erzielt, wenn auch nur in den
Gebieten, in denen wir sind. Und ich sehe keinen Grund, aufgrund einer
völlig theoretischen Diskussion in Deutschland Taschenkarten für
Soldaten ändern zu müssen. Ich sehe keinen militärischen
Grund dafür.“
Schneiderhan vor mehr als einem Jahr bei der Verabschiedung der Quick
Reaction Force nach Afghanistan.
Doch die Lage im Norden wurde immer gefährlicher. Die Anschläge
auf die Bundeswehr nahmen zu. Patrouillen wurden immer öfter in Hinterhalte
gelockt und angegriffen. Die Soldaten sahen sich in einem Krieg. Für
das Verteidigungsministerium aber war der Einsatz weiterhin eine Stabilisierungsmission.
Im Oktober vergangenen Jahres sprach Verteidigungsminister Jung auf der
Trauerfeier für zwei getötete Soldaten in Zweibrücken dann
erstmals von Gefallenen. Eine Konzession an die eigene Truppe, in der
der Unmut über die Wortwahl zunahm. Das Wort Krieg lehnte der CDU-Politiker
aber weiterhin ab.
Die Lage in Kundus spitzte sich jedoch immer mehr zu. Vor diesem Hintergrund
hat die Bundeswehr im April mehrere bei der NATO angemeldete Selbstbeschränkungen
bei den Einsatzregeln aufgegeben. Die Rede ist von den Rules of Engagement
423 bis 429. Sie erlauben u.a. Angriffe auf Personen und Gruppen, die
die Bewegungsfreiheit der ISAF-Truppen einschränken. Die Bundeswehr
gab damit bei den Einsatzregeln ihren bisherigen Grundsatz auf, militärische
Mittel nur zur unmittelbaren Selbstverteidigung einzusetzen. Die Öffentlichkeit
erfuhr von dieser Weichenstellung allerdings nichts.
Im Juli wurde jedoch bekannt, dass die Taschenkarten für die Bundeswehr-Soldaten
geändert worden sind. Das Verteidigungsministerium sprach von einer
Anpassung und Vereinfachung. Von einer grundsätzlichen Neuerung wollte
man nichts wissen. Allerdings ist jetzt laut Taschenkarte vor dem Schusswaffengebrauch
nicht mehr in jedem Fall eine Warnung oder ein Anruf notwendig. Nur noch
dann, wenn es die Lage zulässt. Die deutschen Soldaten müssen
also nicht mehr warten, bis sie angegriffen werden. Sie können ggf.
auch präventiv ihre Waffen gegen einen möglichen Gegner einsetzen.
Verteidigungsminister zu Guttenberg spricht seit seinem Amtsantritt von
kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan. Anders als sein Vorgänger
räumt er ein, dass es am Hindukusch einen nicht-internationalen bewaffneten
Konflikt gibt. Danach gilt dort das humanitäre Völkerrecht.
Das hat auch für die Soldaten Konsequenzen. Zu Guttenberg kritisierte
in diesem Zusammenhang auch Franz Josef Jung und die Öffentlichkeitsarbeit
des Verteidigungsministeriums:
O-Ton zu Guttenberg bei Beckmann
„Es gibt seit Monaten über die sogenannte Taschenkarte, die Soldaten
mit sich führen, die Möglichkeit, aktiv-offensiv gegen Taliban
beispielsweise vorzugehen in engen, klaren Kriterien, die auch die Verhältnismäßigkeit
mit beinhalten müssen. … Ich würde es, was immer geboten ist,
auch notwendige Anpassung an Realitäten nennen. Das Problem ist
nur, dass wir die Realitäten allzu oft verschwiegen haben, was
Afghanistan anbelangt. Wir müssen sehr viel deutlicher werden;
die Menschen verstehen in unserem Land sehr viel besser, was sich dort
abspielt, als wir es politisch gelegentlich kommuniziert haben… Die
Bundeswehr hat zumindest entgegen manchem politisch kommunizierten Bild,
insbesondere aus Teilen der Opposition dieser Tage, bereits vor dem
vierten September mehr Möglichkeiten gehabt, auch des Vorgehens,
als es manche darstellen.“
Auch für Völkerrechtler ist es schon längst keine Frage
mehr, dass es in Afghanistan einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt
gibt, also einen Krieg. Die Aufständischen sind danach legitime militärische
Ziele, die angegriffen werde können, auch wenn sie keine Kombattanten
sind. Stefan Oeter, Professor für Völkerrecht an der Universität
Hamburg:
O-Ton Oeter
„Die Aufständischen sind statusmäßig eigentlich Teile
der Zivilbevölkerung. Es gibt eine Ausnahmeregelung, dass Zivilpersonen,
die unmittelbar an Feindseligkeiten beteiligt sind, die also im Grunde
mit Waffengewalt gegen die Regierung kämpfen, dass die im Grunde
aus dem Schutz der Zivilbevölkerung ausgeklammert sind und gezielt
getötet werden dürfen. Also insofern kann man sagen, dass
sie von der negativen Seite her den Kombattanten gleichgestellt werden.
Aber es gibt nicht die positive Seite des Kombattantenstatus, dass sie
selbst im Grunde das Privileg der Straffreiheit hätten für
ihre Gewalthandlungen.“
Die Bundeswehr steht also in Afghanistan in einem Krieg. Für die
Öffentlichkeit eine überraschende Erkenntnis. Denn jahrelang
sind vom Verteidigungsministerium Nebelkerzen geworfen worden. Erst nach
dem Luftangriff bei Kundus ist der breiten Öffentlichkeit die wirkliche
Rolle der Bundeswehr am Hindukusch deutlich geworden.
Inzwischen sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, die
deutschen Truppen sehr schnell mit schweren Waffen zu verstärken.
Die Start- und Landebahn in Mazar-i-Scharif wurde erneuert, so dass sie
nun auch von den schweren russisch-ukrainischen Transportmaschinen vom
Typ Antonow 124 genutzt werden können. Die Transporter können
jeweils 120 Tonnen Nutzlast tragen. Die Bundeswehr hat sich vertraglich
den Zugriff auf diese Flugzeuge gesichert. Zum Jahreswechsel sollen weitere
fünf Schützenpanzer an den Hindukusch verlegt werden. Der Transport
dauert nur wenige Stunden. Nicht ausgeschlossen ist, dass demnächst
auch noch Artillerie und anderes schweres Gerät in den Norden verlegt
werden. Die neue Startbahn ist aber keine Einbahnstraße. Sie kann
auch einen Rückzug leichter und einfacher machen.
Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.
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