Noch mehr Kanonenfutter
Deutsche Soldaten in Afghanistan - Trickreich mogelt sich die Koalition
um eine unliebsame Debatte herum
Gastbeitrag von Jürgen Rose
Mit der Übernahme der schnellen Eingreiftruppe QRF im Norden
ist die Bundeswehr erstmals mit einem reinen Kampfverband in Afghanistan
im Einsatz. Zeitgleich zum Beginn des Kommandos wurden deutsche Soldaten
bei einem Anschlag verletzt. Der Kriegsschauplatz ist für westliche
Truppen inzwischen gefährlicher als der im Irak, vor allem aber leidet
die afghanische Bevölkerung, ausländische Helfer ziehen sich
zurück. Die Koalition in Berlin will das Bundeswehr-Mandat dennoch
im Herbst verlängern und 1.000 weitere Soldaten entsenden.
„Wichtig ist, die Deutschen in Kunduz zu bekämpfen und zu töten.
Die Deutschen sind der wichtigste Feind im Norden und wegen ihrer Stationierung
in Kunduz wird diese Stadt bald zum Kandahar des Nordens." Die Ansage
von Taliban-Kommandeur Qari Bashir Haqqani an die Bundeswehr vor wenigen
Wochen macht deutlich, dass der Boden für die deutsche ISAF-Truppe
auch in der stets als relativ friedlich dargestellten Besatzungszone Nord
immer heißer wird. Aus den von ihr kontrollierten Gebieten im Süden
stößt die afghanische Guerilla über Provinzen im Westen
immer weiter auf die von den Deutschen gehaltenen Positionen vor. In blutigen
Gefechten gelang es zwar den ISAF-Verbänden im Herbst 2007 und in
diesem Früh-jahr, die Organized Militant Forces genannten Feindkräfte
zurückzuschlagen - aber nur vor-läufig. Mitte Juni vermochten
es die Taliban in einem spektakulären Handstreich, das Sar-possa-Gefängnis
in Kandahar zu stürmen. Nicht nur die afghanische Staatsmacht, sondern
auch die internationalen Besatzungstruppen wurden regelrecht vorgeführt.
Von daher erstaunt es nicht, dass die Pariser Afghanistan-Konferenz
im Juni eine er-nüchternde Bilanz des NATO-Militäreinsatzes
gezogen hat. "Die Sicherheitslage ist seit An-fang 2006 deutlich
instabiler geworden, vor allem im Süden und Osten des Landes, einige
Distrikte sind nach wie vor größtenteils unzugänglich
für afghanische Amtsträger und Helfer. Etwa sechs Prozent aller
Schulen wurden niedergebrannt oder geschlossen, wodurch etwa 200.000 Kinder
nicht unterrichtet werden können (220 Schüler und Lehrer kamen
durch militärische Gewalt ums Leben)", hieß es im Abschlusspapier.
So hat sich die Zahl der Zwischenfälle einer Studie des Hamburger
Instituts für Friedens-forschung und Sicherheitspolitik zufolge von
etwa 2.600 im Jahr 2006 auf rund 4.000 im Vor-jahr erhöht. Insbesondere
die Zahl der Selbstmordattentate nahm zu. Kam es 2005 nur zu 17 Anschlägen
dieser Art, waren es 123 im Jahr 2006 und 131 im Jahr darauf. Mit 99 Gefallenen
ist 2008 das bisher verlustreichste Jahr für die Besatzungstruppen.
Ob islamistische und nationalistische Paschtunen, Drogenhändler und
lokale Milizen, Al-Qaida-Terroristen und Jihadisten aus dem Ausland, Antizentralisten
und autonome Kräfte - insgesamt zählte die UNO schon im Jahr
2006 bis zu 2.200 illegale bewaffnete Gruppen. Mit bis zu 200.000 Kämpfern,
die über mehr als 3,5 Millionen leichte Waffen verfügen, kontrollieren
sie nach Schätzungen der internationalen Expertengruppe Senlis Council
mittlerweile 54 Prozent des afghanischen Territoriums; in weiteren 38
Prozent sind sie präsent.
Wie intensiv der Krieg zwischen der afghanischen Guerilla und den westlichen
Besatzungs-truppen tobt, lässt sich auch an der Zahl der geflogenen
NATO-Luftangriffe ablesen: Von 2006 auf 2007 stieg sie um 1.000 auf insgesamt
2.764 Einsätze an und liegt damit zweieinhalb mal so hoch (!) wie
die der zur gleichen Zeit im Irak geflogenen Missionen.
Angesicht der immer desolateren Lage fällt den NATO-Befehlshabern
nichts Besseres ein, als immer mehr Truppen zu fordern. Obwohl die ISAF
bereits auf nunmehr 52.000 Mann auf-gestockt wurde, fehlen nach Angaben
des deutschen Generals Egon Ramms immer noch 6.000 Soldaten. Ins gleiche
Horn stößt US-Generalstabschef Michael Mullen mit seiner Forderung
von mindestens weiteren drei Kampfbrigaden. Dabei waren erst im März
3.200 US-Marineinfanteristen als einmalige Verstärkung für Südafghanistan
geschickt worden. Allerdings sollen diese bereits im August wieder abgezogen
sein.
Für die Bundeswehr entpuppt sich die "Verteidigung der Freiheit"
im fernen Zentralasien immer mehr als Fass ohne Boden. Von ursprünglich
1.800 Soldaten ist die Mandatsober-grenze ständig nach oben verrückt
worden, auf derzeit 3.500. Zugleich mutierte die Friedens-stabilisierungsmission
immer mehr zum Kampfeinsatz. Letztes Jahr wurden Tornado-Kampfflugzeuge
entsandt, seit einigen Monaten sichert eine deutsche Fallschirmjäger-kompanie
das Feldlager in Kunduz, das zuvor täglich unter Beschuss geraten
war, im Frühjahr kämpften 60 Bundeswehrsoldaten bei der "Operation
Karez" mit, und seit dem 1. Juli stehen knapp 250 Panzergrenadiere
als "Quick Reaction Force" im Regionalkommando Nord Ge-wehr
bei Fuß.
Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat angesichts der Forderungen
seiner Generäle an-kündigt, ab Herbst weitere 1.000 Soldaten
zu entsenden - an deutschem Kanonenfutter scheint kein Mangel. Dabei ist
die Heimatfront alles andere als kriegsbegeistert. Mehr als drei Viertel
der Bevölkerung lehnen den Einsatz ab und würden die Bundeswehr
lieber heute als morgen abziehen. Da sich eine verschärfte Kontroverse
über die Ausweitung des deutschen En-gagements alles andere als vorteilhaft
auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf aus-wirken könnte, greifen
die Großkoalitionäre zu einem politischen Taschenspielertrick:
Das im Herbst 2008 zur Verlängerung anstehende ISAF-Mandat soll gleich
bis Ende 2009, also um 14 statt wie bisher um zwölf Monate, verlängert
werden.
Die trügerische Hoffnung dabei liegt offenbar darin, dass das Stimmvolk
diesen demokratie-widrigen Akt schon nicht bemerken werde: statt parlamentarischer
Legitimation nur noch machtpolitische Manipulation.
Äußerst distinguiert kommentiert man in Wien die aus dem
Ruder laufende deutsche Militär-politik: "Der Trend zu insgesamt
höher intensiven Einsatzformen scheint sich fortzusetzen", formuliert
in vornehmer Untertreibung die eher konservative Österreichische
Militärische Zeitung und fügt an: "Der Solidaritätswert
des deutschen Beitrages wird damit zweifellos steigen - dass dabei aber
kein höheres Risiko eingegangen wird, darf bezweifelt werden."
Mitunter besitzen kleinere Staaten die größere politische Vernunft.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt
in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
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