Gastbeitrag
Freitag
Nr. 27 / 04. Juli 2008


Noch mehr Kanonenfutter

Deutsche Soldaten in Afghanistan - Trickreich mogelt sich die Koalition um eine unliebsame Debatte herum

Gastbeitrag von Jürgen Rose

Mit der Übernahme der schnellen Eingreiftruppe QRF im Norden ist die Bundeswehr erstmals mit einem reinen Kampfverband in Afghanistan im Einsatz. Zeitgleich zum Beginn des Kommandos wurden deutsche Soldaten bei einem Anschlag verletzt. Der Kriegsschauplatz ist für westliche Truppen inzwischen gefährlicher als der im Irak, vor allem aber leidet die afghanische Bevölkerung, ausländische Helfer ziehen sich zurück. Die Koalition in Berlin will das Bundeswehr-Mandat dennoch im Herbst verlängern und 1.000 weitere Soldaten entsenden.

„Wichtig ist, die Deutschen in Kunduz zu bekämpfen und zu töten. Die Deutschen sind der wichtigste Feind im Norden und wegen ihrer Stationierung in Kunduz wird diese Stadt bald zum Kandahar des Nordens." Die Ansage von Taliban-Kommandeur Qari Bashir Haqqani an die Bundeswehr vor wenigen Wochen macht deutlich, dass der Boden für die deutsche ISAF-Truppe auch in der stets als relativ friedlich dargestellten Besatzungszone Nord immer heißer wird. Aus den von ihr kontrollierten Gebieten im Süden stößt die afghanische Guerilla über Provinzen im Westen immer weiter auf die von den Deutschen gehaltenen Positionen vor. In blutigen Gefechten gelang es zwar den ISAF-Verbänden im Herbst 2007 und in diesem Früh-jahr, die Organized Militant Forces genannten Feindkräfte zurückzuschlagen - aber nur vor-läufig. Mitte Juni vermochten es die Taliban in einem spektakulären Handstreich, das Sar-possa-Gefängnis in Kandahar zu stürmen. Nicht nur die afghanische Staatsmacht, sondern auch die internationalen Besatzungstruppen wurden regelrecht vorgeführt.

Von daher erstaunt es nicht, dass die Pariser Afghanistan-Konferenz im Juni eine er-nüchternde Bilanz des NATO-Militäreinsatzes gezogen hat. "Die Sicherheitslage ist seit An-fang 2006 deutlich instabiler geworden, vor allem im Süden und Osten des Landes, einige Distrikte sind nach wie vor größtenteils unzugänglich für afghanische Amtsträger und Helfer. Etwa sechs Prozent aller Schulen wurden niedergebrannt oder geschlossen, wodurch etwa 200.000 Kinder nicht unterrichtet werden können (220 Schüler und Lehrer kamen durch militärische Gewalt ums Leben)", hieß es im Abschlusspapier.

So hat sich die Zahl der Zwischenfälle einer Studie des Hamburger Instituts für Friedens-forschung und Sicherheitspolitik zufolge von etwa 2.600 im Jahr 2006 auf rund 4.000 im Vor-jahr erhöht. Insbesondere die Zahl der Selbstmordattentate nahm zu. Kam es 2005 nur zu 17 Anschlägen dieser Art, waren es 123 im Jahr 2006 und 131 im Jahr darauf. Mit 99 Gefallenen ist 2008 das bisher verlustreichste Jahr für die Besatzungstruppen. Ob islamistische und nationalistische Paschtunen, Drogenhändler und lokale Milizen, Al-Qaida-Terroristen und Jihadisten aus dem Ausland, Antizentralisten und autonome Kräfte - insgesamt zählte die UNO schon im Jahr 2006 bis zu 2.200 illegale bewaffnete Gruppen. Mit bis zu 200.000 Kämpfern, die über mehr als 3,5 Millionen leichte Waffen verfügen, kontrollieren sie nach Schätzungen der internationalen Expertengruppe Senlis Council mittlerweile 54 Prozent des afghanischen Territoriums; in weiteren 38 Prozent sind sie präsent.

Wie intensiv der Krieg zwischen der afghanischen Guerilla und den westlichen Besatzungs-truppen tobt, lässt sich auch an der Zahl der geflogenen NATO-Luftangriffe ablesen: Von 2006 auf 2007 stieg sie um 1.000 auf insgesamt 2.764 Einsätze an und liegt damit zweieinhalb mal so hoch (!) wie die der zur gleichen Zeit im Irak geflogenen Missionen.

Angesicht der immer desolateren Lage fällt den NATO-Befehlshabern nichts Besseres ein, als immer mehr Truppen zu fordern. Obwohl die ISAF bereits auf nunmehr 52.000 Mann auf-gestockt wurde, fehlen nach Angaben des deutschen Generals Egon Ramms immer noch 6.000 Soldaten. Ins gleiche Horn stößt US-Generalstabschef Michael Mullen mit seiner Forderung von mindestens weiteren drei Kampfbrigaden. Dabei waren erst im März 3.200 US-Marineinfanteristen als einmalige Verstärkung für Südafghanistan geschickt worden. Allerdings sollen diese bereits im August wieder abgezogen sein.

Für die Bundeswehr entpuppt sich die "Verteidigung der Freiheit" im fernen Zentralasien immer mehr als Fass ohne Boden. Von ursprünglich 1.800 Soldaten ist die Mandatsober-grenze ständig nach oben verrückt worden, auf derzeit 3.500. Zugleich mutierte die Friedens-stabilisierungsmission immer mehr zum Kampfeinsatz. Letztes Jahr wurden Tornado-Kampfflugzeuge entsandt, seit einigen Monaten sichert eine deutsche Fallschirmjäger-kompanie das Feldlager in Kunduz, das zuvor täglich unter Beschuss geraten war, im Frühjahr kämpften 60 Bundeswehrsoldaten bei der "Operation Karez" mit, und seit dem 1. Juli stehen knapp 250 Panzergrenadiere als "Quick Reaction Force" im Regionalkommando Nord Ge-wehr bei Fuß.

Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat angesichts der Forderungen seiner Generäle an-kündigt, ab Herbst weitere 1.000 Soldaten zu entsenden - an deutschem Kanonenfutter scheint kein Mangel. Dabei ist die Heimatfront alles andere als kriegsbegeistert. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung lehnen den Einsatz ab und würden die Bundeswehr lieber heute als morgen abziehen. Da sich eine verschärfte Kontroverse über die Ausweitung des deutschen En-gagements alles andere als vorteilhaft auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf aus-wirken könnte, greifen die Großkoalitionäre zu einem politischen Taschenspielertrick: Das im Herbst 2008 zur Verlängerung anstehende ISAF-Mandat soll gleich bis Ende 2009, also um 14 statt wie bisher um zwölf Monate, verlängert werden.

Die trügerische Hoffnung dabei liegt offenbar darin, dass das Stimmvolk diesen demokratie-widrigen Akt schon nicht bemerken werde: statt parlamentarischer Legitimation nur noch machtpolitische Manipulation.

Äußerst distinguiert kommentiert man in Wien die aus dem Ruder laufende deutsche Militär-politik: "Der Trend zu insgesamt höher intensiven Einsatzformen scheint sich fortzusetzen", formuliert in vornehmer Untertreibung die eher konservative Österreichische Militärische Zeitung und fügt an: "Der Solidaritätswert des deutschen Beitrages wird damit zweifellos steigen - dass dabei aber kein höheres Risiko eingegangen wird, darf bezweifelt werden." Mitunter besitzen kleinere Staaten die größere politische Vernunft.


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.