Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
29. Dezember 2007


Versäumnisse mit Folgen
Fehleinschätzungen am Hindukusch

Andreas Flocken

Am 1. Mai 2003 erklärte Präsident Bush auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln medienwirksam den Irak-Krieg de facto für beendet. "Mission accomplished", Auftrag erfüllt, so die Botschaft von George W. Bush. Ein Irrtum, wie man inzwischen weiß. Denn der Irak ist bis heute nicht befriedet. US-Soldaten und viele tausend Iraker sind auch nach der Ankündigung des US-Präsidenten zu Tode gekommen. Weitgehend untergegangen ist damals in der Öffentlichkeit, dass Pentagon-Chef Rumsfeld am selben Tag - einige Stunden vor der Bush-Ankündigung - ähnliches für Afghanistan bekannt gegeben hatte. Auf einer Pressekonferenz mit Hamid Karsai erklärte Rumsfeld in Kabul die Hauptkampfhandlungen am Hindukusch für beendet. Die größten Teile des Landes seien sicher. Jetzt beginne die Zeit der Stabilisierung und des Wiederaufbaus.

Diese Ankündigung liegt inzwischen viereinhalb Jahre zurück. Und von einer Verbesserung der Situation am Hindukusch kann keine Rede sein, obwohl mittlerweile Milliarden von Dollar in das Land gepumpt worden sind. Und auch die Zahl der ausländischen Truppen hat sich inzwischen auf mehr als 50.000 erhöht. Die Kämpfe vor allem im Süden und Osten des Landes haben erheblich an Intensität zugenommen. In diesem Jahr sind mehr als 230 ISAF- und OEF-Soldaten getötet worden. Das sind die seit Jahren höchsten Verluste. Zum Vergleich: 2003, also im Jahr der Rumsfeld-Ankündigung, wurden 57 Soldaten getötet. Über die Opfer in der Zivilbevölkerung im laufenden Jahr gibt es keine genauen Angaben. Schätzungen gehen von 6.000 aus.

Die Sicherheitslage hat sich also erheblich verschlechtert. Einer der Gründe sind Fehleinschätzungen vor allem der Regierung in Washington nach dem Sturz der Taliban 2001. Denn bereits ein Jahr nach der Vertreibung der Fundamentalisten aus der afghanischen Hauptstadt konnten sich nicht nur amerikanische Diplomaten im Land weitgehend frei bewegen. Pentagonchef Rumsfeld rühmte sich, die Taliban vor allem aus der Luft und mit nur wenigen US-Kräften am Boden gestürzt zu haben. Zugleich wurden in Washington die Planungen für den Irak-Krieg immer konkreter. Das blieb nicht ohne Folgen für Afghanistan. Aus Sicht der NEW YORK TIMES haben die USA in einer für Afghanistan kritischen Phase wichtige Ressourcen abgezogen, weil sie für den Sturz von Saddam Hussein benötigt wurden. Dazu gehörten erfahrene Nachrichten- und Geheimdienstexperten, Spezialtruppen sowie Aufklärungsmittel wie Drohnen. Die Bush-Administration konzentrierte sich 2002 ganz auf den Irak. Afghanistan war für manchen US-Offiziellen schon Vergangenheit.

Der damalige Außenminister Powell sprach sich zwar frühzeitig dafür aus, in Afghanistan eine internationale Friedenstruppe aufzustellen, um Hamid Karsais Position zu festigen. Die Rede war von bis zu 40.000 Soldaten - je zur Hälfte aus den USA und aus Europa. Doch vor allem im Pentagon stießen solche Überlegungen auf Vorbehalte. Aus Sicht von Rumsfeld könnte dadurch der historisch gewachsene Widerstand der Afghanen gegen Besatzer geweckt werden. Die US-Streitkräfte sollten sich daher mit einem nur kleinen Kontingent vor allem auf die Jagd von Terroristen am Hindukusch konzentrieren. Allerdings kam es dann doch noch zum Aufbau einer rund 4.000 Soldaten starken internationalen Stabilisierungstruppe, die sich zunächst allerdings nur auf die Hauptstadt Kabul konzentrierte.

Washington zögerte zunächst auch bei der Bereitstellung von Mitteln für den Wiederaufbau. Im April 2002 hatte Präsident Bush im Virgina Military Institute eine Art Marshall-Plan für Afghanistan angekündigt. Diese Akademie hatte einst der ehemalige Außenminister George C. Marshall besucht. Doch die Mittel ließen auf sich warten. Der Wiederaufbau rückte erst stärker in den Mittelpunkt, als Zalmay Khalilzad US-Botschafter in Kabul wurde. Der Mittelost-Spezialist hatte die Übernahme dieses Postens nämlich von der Bereitstellung zusätzlicher Mittel für Afghanistan abhängig gemacht.

Lange ignoriert wurde auch die Rolle Pakistans. Das Land war von Anbeginn Rückzugsraum für die Taliban und andere Aufständische. Für Experten hat Washington viel zu spät Druck auf Islamabad ausgeübt, gegen die Taliban vorzugehen. Versäumnisse und Fehleinschätzungen hat es jedoch nicht allein bei den USA gegeben, wie das Beispiel Polizeiaufbau zeigt. Deutschland hatte 2002 die Federführung übernommen – und ist damit gescheitert. Jetzt hat Berlin die Verantwortung hierfür an die EU weitergegeben. Ob damit aber alles besser wird, ist keineswegs sicher.

Ein Jahr nach dem NATO-Gipfel von Riga hat sich inzwischen auch im westlichen Bündnis die Erkenntnis durchgesetzt, dass der damals in Lettland gepriesene Ansatz, gleichzeitig Sicherheit und Wiederaufbau am Hindukusch zu stärken, noch immer nicht greift. Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO in Bukarest in vier Monaten soll daher nachgebessert werden. Stefanie Babst, stellvertretende Beigeordnete Generalsekretärin und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im Bündnis:

O-Ton Babst:
"Es geht darum, uns politisch und natürlich auch vor dem Hintergrund der militärischen Situation in Afghanistan, in die Lage zu versetzen, zu 26 eine gemeinsame Vision noch einmal stärker zu konkretisieren, wohin wir eigentlich mit den Afghanen und den anderen Akteuren in Afghanistan gehen wollen."

Eile ist geboten. Denn in diesem Halbjahr sind beispielsweise die Einsätze von Kampfflugzeugen am Hindukusch dramatisch angestiegen. Bodentruppen haben jeden Monat rund 1.200 so genannte Sorties angefordert. Bei jedem zweiten Einsatz wurden Waffen eingesetzt. Zum Vergleich: 2004 haben auf dem US-Stützpunkt Bagram stationierte Kampfflugzeuge 86 Mal Bomben und Raketen eingesetzt – und zwar im ganzen Jahr.


 

Andreas Flocken ist Redakteur für die Hörfunk-Sendung "Streitkräfte und Strategien" bei NDRinfo.