Versäumnisse mit Folgen
Fehleinschätzungen am Hindukusch
Andreas Flocken
Am 1. Mai 2003 erklärte Präsident Bush auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln
medienwirksam den Irak-Krieg de facto für beendet. "Mission accomplished",
Auftrag erfüllt, so die Botschaft von George W. Bush. Ein Irrtum, wie man inzwischen
weiß. Denn der Irak ist bis heute nicht befriedet. US-Soldaten und viele tausend Iraker
sind auch nach der Ankündigung des US-Präsidenten zu Tode gekommen. Weitgehend
untergegangen ist damals in der Öffentlichkeit, dass Pentagon-Chef Rumsfeld am selben Tag
- einige Stunden vor der Bush-Ankündigung - ähnliches für Afghanistan bekannt gegeben
hatte. Auf einer Pressekonferenz mit Hamid Karsai erklärte Rumsfeld in Kabul die
Hauptkampfhandlungen am Hindukusch für beendet. Die größten Teile des Landes seien
sicher. Jetzt beginne die Zeit der Stabilisierung und des Wiederaufbaus.
Diese Ankündigung liegt inzwischen viereinhalb Jahre zurück. Und von einer
Verbesserung der Situation am Hindukusch kann keine Rede sein, obwohl mittlerweile
Milliarden von Dollar in das Land gepumpt worden sind. Und auch die Zahl der
ausländischen Truppen hat sich inzwischen auf mehr als 50.000 erhöht. Die Kämpfe vor
allem im Süden und Osten des Landes haben erheblich an Intensität zugenommen. In diesem
Jahr sind mehr als 230 ISAF- und OEF-Soldaten getötet worden. Das sind die seit Jahren
höchsten Verluste. Zum Vergleich: 2003, also im Jahr der Rumsfeld-Ankündigung, wurden 57
Soldaten getötet. Über die Opfer in der Zivilbevölkerung im laufenden Jahr gibt es
keine genauen Angaben. Schätzungen gehen von 6.000 aus.
Die Sicherheitslage hat sich also erheblich verschlechtert. Einer der Gründe sind
Fehleinschätzungen vor allem der Regierung in Washington nach dem Sturz der Taliban 2001.
Denn bereits ein Jahr nach der Vertreibung der Fundamentalisten aus der afghanischen
Hauptstadt konnten sich nicht nur amerikanische Diplomaten im Land weitgehend frei
bewegen. Pentagonchef Rumsfeld rühmte sich, die Taliban vor allem aus der Luft und mit
nur wenigen US-Kräften am Boden gestürzt zu haben. Zugleich wurden in Washington die
Planungen für den Irak-Krieg immer konkreter. Das blieb nicht ohne Folgen für
Afghanistan. Aus Sicht der NEW YORK TIMES haben die USA in einer für Afghanistan
kritischen Phase wichtige Ressourcen abgezogen, weil sie für den Sturz von Saddam Hussein
benötigt wurden. Dazu gehörten erfahrene Nachrichten- und Geheimdienstexperten,
Spezialtruppen sowie Aufklärungsmittel wie Drohnen. Die Bush-Administration konzentrierte
sich 2002 ganz auf den Irak. Afghanistan war für manchen US-Offiziellen schon
Vergangenheit.
Der damalige Außenminister Powell sprach sich zwar frühzeitig dafür aus, in
Afghanistan eine internationale Friedenstruppe aufzustellen, um Hamid Karsais Position zu
festigen. Die Rede war von bis zu 40.000 Soldaten - je zur Hälfte aus den USA und aus
Europa. Doch vor allem im Pentagon stießen solche Überlegungen auf Vorbehalte. Aus Sicht
von Rumsfeld könnte dadurch der historisch gewachsene Widerstand der Afghanen gegen
Besatzer geweckt werden. Die US-Streitkräfte sollten sich daher mit einem nur kleinen
Kontingent vor allem auf die Jagd von Terroristen am Hindukusch konzentrieren. Allerdings
kam es dann doch noch zum Aufbau einer rund 4.000 Soldaten starken internationalen
Stabilisierungstruppe, die sich zunächst allerdings nur auf die Hauptstadt Kabul
konzentrierte.
Washington zögerte zunächst auch bei der Bereitstellung von Mitteln für den
Wiederaufbau. Im April 2002 hatte Präsident Bush im Virgina Military Institute eine Art
Marshall-Plan für Afghanistan angekündigt. Diese Akademie hatte einst der ehemalige
Außenminister George C. Marshall besucht. Doch die Mittel ließen auf sich warten. Der
Wiederaufbau rückte erst stärker in den Mittelpunkt, als Zalmay Khalilzad US-Botschafter
in Kabul wurde. Der Mittelost-Spezialist hatte die Übernahme dieses Postens nämlich von
der Bereitstellung zusätzlicher Mittel für Afghanistan abhängig gemacht.
Lange ignoriert wurde auch die Rolle Pakistans. Das Land war von Anbeginn Rückzugsraum
für die Taliban und andere Aufständische. Für Experten hat Washington viel zu spät
Druck auf Islamabad ausgeübt, gegen die Taliban vorzugehen. Versäumnisse und
Fehleinschätzungen hat es jedoch nicht allein bei den USA gegeben, wie das Beispiel
Polizeiaufbau zeigt. Deutschland hatte 2002 die Federführung übernommen und ist
damit gescheitert. Jetzt hat Berlin die Verantwortung hierfür an die EU weitergegeben. Ob
damit aber alles besser wird, ist keineswegs sicher.
Ein Jahr nach dem NATO-Gipfel von Riga hat sich inzwischen auch im westlichen Bündnis
die Erkenntnis durchgesetzt, dass der damals in Lettland gepriesene Ansatz, gleichzeitig
Sicherheit und Wiederaufbau am Hindukusch zu stärken, noch immer nicht greift. Beim
Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO in Bukarest in vier Monaten soll daher
nachgebessert werden. Stefanie Babst, stellvertretende Beigeordnete Generalsekretärin und
zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im Bündnis:
O-Ton Babst:
"Es geht darum, uns politisch und natürlich auch vor dem Hintergrund der
militärischen Situation in Afghanistan, in die Lage zu versetzen, zu 26 eine gemeinsame
Vision noch einmal stärker zu konkretisieren, wohin wir eigentlich mit den Afghanen und
den anderen Akteuren in Afghanistan gehen wollen."
Eile ist geboten. Denn in diesem Halbjahr sind beispielsweise die Einsätze von
Kampfflugzeugen am Hindukusch dramatisch angestiegen. Bodentruppen haben jeden Monat rund
1.200 so genannte Sorties angefordert. Bei jedem zweiten Einsatz wurden Waffen eingesetzt.
Zum Vergleich: 2004 haben auf dem US-Stützpunkt Bagram stationierte Kampfflugzeuge 86 Mal
Bomben und Raketen eingesetzt und zwar im ganzen Jahr.
Andreas Flocken ist Redakteur für die Hörfunk-Sendung
"Streitkräfte und Strategien" bei NDRinfo.
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