WeltTrends
Nummer 54, Frühjahr 2007


Militärmacht Deutschland?

von Otfried Nassauer

Noch heute trauert so mancher dem früheren Verteidigungsminister Peter Struck nach. Insbesondere seiner Fähigkeit, Klartext zu reden. Wo andere sich mühen, immer "politisch korrekt" zu formulieren, kommt er auf den Punkt. Das brachte Anerkennung - hausintern. Es verleitete ihn aber auch zu dem strittigsten Satz seiner Laufbahn: "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Sechs Worte, verbunden zu einem Satz, der aktuelle Kernfragen deutscher Militär- und Sicherheitspolitik in sich bündelt und bemerkenswert symbol- sowie gefahrenträchtig ist.

Soll die Bundeswehr jenseits der durch das Grundgesetz festgelegten Funktionen der Landes- und Bündnisverteidigung zum Einsatz kommen? Wenn ja, bei welchen, warum und wo? Unter welchen Voraussetzungen soll das geschehen und vielleicht wichtiger noch, unter welchen nicht? Darf und soll die Bundeswehr Aufgaben übernehmen, die an sie herangetragen werden, nur weil multinationale Institutionen wie NATO und EU, in denen Deutschland mitwirkt, ihre Aufgabenfelder erweitern? Welche Aufgaben haben Sicherheits-, Militär- und Verteidigungspolitik in Zeiten, in denen eine akute oder gravierende Gefährdung der territorialen Integrität des deutschen Staatsgebietes nicht gegeben ist und eine akute militärische Existenz- oder Überlebensgefährdung des deutschen Staates sogar herbeigelogen werden müsste? Wie verändert sich die Rolle und Bedeutung des Militärischen angesichts sich verändernder Risiken und was bedeutet das für die Sicherheitspolitik? Welche Strukturen und Fähigkeiten benötigt die Bundeswehr, um ihre Aufgaben künftig zu erfüllen? Wo müssen Fähigkeiten neu geschaffen werden? Auf welche Fähigkeiten sollte bewusst verzichtet werden? Welche nicht-militärischen Fähigkeiten gewinnen an Bedeutung für die Sicherheitspolitik? In welchem Verhältnis stehen militärische und nichtmilitärische Fähigkeiten künftig zueinander?

Fragen über Fragen, die bis heute durch die deutsche Politik meist keiner grundsätzlichen Klärung zugeführt worden sind. Auch nicht im jüngsten Weißbuch zur Sicherheitspolitik, das die Bundesregierung 2006 veröffentlichte. Gegeben wurden in den vergangenen Jahren unter dem Druck der Ereignisse und äußeren Anforderungen immer wieder punktuelle, tagespolitisch motivierte Antworten. Oft waren diese umstritten und beinhalteten das Risiko, zu Präzedenzfällen zu werden.


Im Widerspruch zum Völkerrecht

Ein makaberes Beispiel ist der militärisch ausgetragene Konflikt mit Serbien um das Kosovo: Es war der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr. Es war ein Krieg, für den es kein Mandat der Vereinten Nationen gab und der somit im Kern völkerrechtswidrig war. Es war ein Waffengang, auf den die USA drängten und der demonstrieren sollte, dass die NATO ein militärisch handlungsfähiges Bündnis ist. Zugleich lag der Einsatz außerhalb des NATO-Gebietes. Die gerade erst ins Amt gekommene rot-grüne Bundesregierung begründete ihn mit teils stark übertrieben vorgetragenen Argumenten als aus humanitären, menschenrechtlichen Gründen unausweichlich. Und doch zeigte sich schon bald nach dem Krieg, dass die Bundesregierung sich der mangelnden Legitimation und der potentiell weitreichenden Wirkungen als Präzedenzfall indirekt bewusst war: Das Mandat der Vereinten Nationen zu einer Friedensmission im Kosovo wurde als ex post Legitimation für den Krieg der NATO gelesen. Zugleich argumentierte man, der Kosovo-Krieg dürfe keinesfalls ein Präzedenzfall werden.

Ein weiteres Beispiel ist der Bundeswehreinsatz am Hindukusch. Auch hier beteiligt sich die Bundeswehr, weil die USA und die NATO es als Zeichen der Solidarität betrachten und wollen. Deutschland nimmt am Weltkrieg gegen den Terror im Rahmen der Operation Enduring Freedom teil und an der von UNO mandatierten Stabilisierungs- und Wiederaufbaumission ISAF. Auch wenn Berlin weiter darauf achtet, dass beide Missionen formal getrennt bleiben, so werden sie doch immer ähnlicher, seit ISAF und die NATO die Verantwortung für ganz Afghanistan übernommen haben. Die ISAF-Mission wird immer stärker in die Bekämpfung der Taliban und Al Kaidas einbezogen. Je länger und je intensiver dies der Fall ist, desto zweifelhafter werden ihre Erfolgsaussichten bei Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen. Die Eskalationsrisiken wachsen und mit ihnen die Zweifel an der politischen Weisheit der deutschen Beteiligung. Hinzu kommt, dass in Afghanistan wie im Kosovo kein Ende der Wiederaufbaumissionen in Sicht kommen kann, da es beiden Einsätzen (wie auch bei weiteren westlichen Friedensmissionen) nicht gelang, Grundlagen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu legen – auch nicht da, wo die Deutschland die primäre Verantwortung übernahm. Die Missionen folgen der Maxime "Stabilität ist Voraussetzung für Entwicklung", unterschlagen dass Entwicklung auch eine Voraussetzung von Stabilität sein kann und sind schon aus diesem Grunde militärisch dominiert. Die Erfolgsbilanz westlicher Wiederaufbaumissionen ist nicht zuletzt deshalb vielleicht noch durchwachsen zu nennen, aber sicher kein Grund zum Feiern.


Kooperativer Multilateralismus und Selbstbeschränkung

Deutschlands als militärische Macht? Angesichts zweier Weltkriege, die von deutschem Boden ausgingen, lässt sich über dieses Thema begründet streiten. Streiten kann man um, gegen oder für etwas. Dieser Beitrag streitet für etwas: Für die Einbindung deutscher Militärmacht in einen gestaltenden, kooperativen Multilateralismus und in multinationale Strukturen und für eine freiwillige Selbstbeschränkung deutscher Militärmacht. Und für die Einbindung deutscher Militärpolitik in eine erweiterte "Sicherheitspolitik aus einem Guss", einen ressortübergreifenden Ansatz erweiterter Sicherheit. In einem solchen Ansatz sind die militärischen Optionen nur eines von mehreren Handlungsfeldern, dessen Rahmenbedingungen und Grenzen es zudem zu beschreiben gilt. Diese Aufgabe besteht für die deutsche Sicherheitspolitik, aber auch im Rahmen der sich entwickelnden Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), bei der die Bundesrepublik als größter und wirtschaftlich stärkster Mitgliedstaat der EU ein gewichtiges Wörtchen mitredet, also wenn es darum geht, über die Zukunft der "Zivilmacht Europa" als auch militärische befähigte Macht zu entscheiden.

In einer ersten Betrachtung skizziert dieser Artikel deshalb die veränderten Rahmenbedingungen für Sicherheitspolitik. Welche Risiken prägen künftig die Sicherheitspolitik und welchen Charakter haben diese Risiken? Welche Optionen für den Umgang mit diesen Risiken gibt es und welche Alternativen zeigen sich? Welche Fragen müssen gestellt und diskutiert werden, wenn die künftige Rolle des Militärischen für die Sicherheitspolitik Deutschlands und Europas debattiert werden soll? Wie könnten grundsätzliche, nicht tagespolitische Antworten auf diese Fragen aussehen? Ich werde auf diese Aspekte eine konzeptionelle Antwort geben; Antworten anderer Autoren, auch auf meine Positionen, sollen in den nächsten Ausgaben der WeltTrends publiziert werden.


Sicherheitspolitik - Rahmenbedingungen und Risiken

Der Beginn des 21.Jahrhunderts ist von einem gemeinhin als Globalisierung bezeichneten, rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet, der von etlichen sicherheitspolitisch relevanten Deregulierungsprozessen begleitet wird. Veränderungen finden oft unter Bedingungen statt, in denen das Recht des Stärkeren Vorrang vor der Stärkung des Rechts und seiner Wirksamkeit hat. Die Globalisierung der Wirtschaftprozesse verstärkt durch Deregulierung vielfach soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen. Als Konsequenz der ökonomischen Deregulierung entwickeln sich rasch wachsende Konfliktpotentiale. Diese können gewaltsam ausgetragen werden, wenn es nicht gelingt, sie vorbeugend politisch zu regulieren.

Daneben ist eine sicherheitspolitische Deregulierung zu beobachten. Am deutlichsten wird diese bei Staaten, die von Zerfallsprozessen gekennzeichnet sind. Die private Kontrolle über Gewaltmittel gewinnt, das staatliche Gewaltmonopol verliert dagegen an Bedeutung. Sicherheit wird vom öffentlichen Gut, das der Staat garantiert, immer häufiger zur Ware, die teuer erworben werden muss. Der durch Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung finanziell geschwächte Staat bekommt auch im Blick auf sein sicherheitspolitisches Handlungsinstrumentarium, also den Kernbereich staatlicher Souveränität, zunehmend "private" Konkurrenz - im Bereich der inneren wie der äußeren Sicherheit. Unterschiedlichste nichtstaatliche Akteure treten in Erscheinung: Akteure, die Sicherheit als Ware anbieten, wie z.B. Sicherheitsfirmen oder private Militärdienstleister, örtliche Akteure der Gewaltökonomie wie z.B. Privatarmeen oder bewaffnete Strukturen von Clans und örtlichen Machthabern, oder auch transnational tätige Akteure wie z.B. international agierende Terroristen, Söldner oder Akteure der Organisierten Kriminalität. Der Prozess der sicherheitspolitischen Deregulierung ist nicht auf schwache Ökonomien beschränkt, er erfasst diese nur leichter und stärker. Das immanente Krisen- und Kriegsrisiko wird deshalb dort schneller und in seiner ganzen Brutalität sichtbar.

Die Deregulierung nationaler gesellschaftlicher Ordnungen "von unten", z.B. durch den Zerfall schwacher Ordnungen, ist zugleich nur eine Seite der Medaille. Zunehmend wird sie durch eine sicherheitspolitische Deregulierung "von oben", also eine bewusste Schwächung von internationalen Ordnungen durch einzelne, starke Akteure ergänzt. In den vergangenen Jahren verfolgten vor allem die USA eine solche Deregulierung der internationalen Beziehungen. Sie fand ihren Ausdruck z.B. in der Entrechtlichung internationaler Beziehungen (Kündigung von Rüstungskontrollverträgen, Nichteinhaltung internationaler Vereinbarungen und völkerrechtlicher Standards) oder in der Entwertung internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen und NATO, die ihrer Funktion als Orte internationaler Entscheidungsfindung beraubt wurden. Deregulierung von oben setzt darauf, mittels des Rechtes des Stärkeren, neue Ordnungen, Normen und Regelsysteme besser durchsetzen zu können als mittels einer Stärkung des Rechts. Dieser Weg blieb den Beweis seiner Wirksamkeit bislang schuldig. Dafür stehen der Irak ebenso wie der "Globale Krieg gegen den Terror".

Schließlich ist zu fragen, ob nicht auch bereits ein Prozess der Deregulierung der natürlichen Lebensbedingungen, der ökologischen Deregulierung, begonnen hat, der seinen Ausdruck in sicherheitspolitisch relevanten Debatten, wie jenen über Klimawandel und Klimakatastrophe oder die Zukunft der globalen Trinkwasser- oder Energieversorgung findet. Auch hier schlummern erhebliche Konfliktpotentiale.

Für Deutschland und Europa bedeuten diese Entwicklungen ein radikal verändertes sicherheitspolitisches Risikoumfeld. Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler Territorien gegen einen staatlich geführten, militärischen Angriff von außen sind eher unwahrscheinlich geworden. Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht heute offensichtlich ein solcher Angriff durch einen Staat oder eine Staatenkoalition, der erfolgversprechend sein könnte. Selbst früher militärisch potente potentielle Kontrahenten wie Russland haben heute ein überwiegendes, genuines Eigeninteresse an sicherheitspolitischer Kooperation, da sie von Kooperation profitieren, unter Konkurrenzbedingungen aber viel zu verlieren hätten.

Deshalb hat sich die Debatte über die Zukunftsaufgaben von Militär- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend auf sicherheitspolitische Risiken anderer Art konzentriert. Neben Regionalkonflikten mit potentiellen Rückwirkungen auf Europa wird vier Risikokategorien und möglichen Kombinationen aus ihnen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dies sind

  • erstens Risiken, die sich im weitesten Sinne aus Staatszerfall und der teilweisen Aneignung von Funktionen des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure ergeben können;
  • zweitens Risiken, die sich aus dem Handeln nichtstaatlicher, transnational tätiger, bewaffneter Akteure, wie z.B. Terroristen, religiöser Extremisten oder auch transnationaler wirtschaftlicher Akteure wie der Organisierten Kriminalität und transnationaler Konzerne ergeben können;
  • drittens Risiken, die aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche oder nicht-staatliche Akteure erwachsen können, da diesen Waffen ein außergewöhnlich großes Schadenspotential zu eigen ist;
  • viertens – deutlich seltener genannt - Risiken, die sich aus dem globalen Klimawandel (und damit auch aus der Energiepolitik), aus Ressourcenkonflikten, z.B. um Trinkwasser, aus der wachsenden Bedeutung von Schattenökonomien oder künftigen Migrationsströmen ergeben können.

Diese sicherheitspolitischen Risiken wurden hinsichtlich ihres Potentials, eine "akute" Bedrohung darzustellen, sehr unterschiedlich bewertet. In den USA wird den Risiken "Terrorismus" und "Proliferation" bzw. der Kombination aus beiden eine Bedrohlichkeit zugeschrieben, die der Bedrohung staatlicher Existenz während des Kalten Krieges ähnelt. Deshalb kommt ihnen allerhöchste Priorität zu. Militärisches Handeln – ob reaktiv oder präventiv – wird damit zu einem unausweichlich erscheinenden dringlichen Erfordernis.

Eine andere Sicht betrachtete diese Risiken ähnlich jenen Restrisiken, die industrialisierten Gesellschaften als Verwundbarkeit immanent sind. Das Kernkraftwerk und der GAU, der trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht völlig ausgeschlossen werden kann, stehen Pate. Diese Bewertung hält es für angebracht, sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, aber für falsch, alles daran zu setzen, Risiken militärisch zu eliminieren, die man nicht militärisch eliminieren kann.

Übertrieb die erste Risikoperzeption, so untertrieb die zweite. Zwar können die genannten Risiken die staatliche Existenz westlicher Industrienationen nicht unmittelbar gefährden. Sie können aber die staatliche Handlungsfreiheit, die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit und die Fähigkeit, Weltordnung im Sinne einer Friedensordnung zu gestalten, deutlich einschränken. Wenn zudem ein starker Akteur wie die USA auf Basis der ersten Sichtweise massiv militärisch agiert, so kann er zugleich einen Beitrag dazu leisten, dass die Risiken rasch wachsen und seine Sichtweise des Konfliktes als existentielle Bedrohung auf dem Wege einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung an Bedeutung gewinnt. Das Vorgehen der USA im Nahen und Mittleren Osten sowie weltweit – im Rahmen des Krieges gegen den Terror – weist diese Tendenz nur zu deutlich auf und deutet zugleich an, welche weiteren Eskalationsrisiken damit verbunden sind, wenn von der Notwendigkeit einer "vierten Generation der Kriegführung" oder gar von einem IV. Weltkrieg gesprochen wird, der gegen Terroristen und Schurkenstaaten zu führen und gewinnen sei. Geht diese Entwicklung ungebrochen weiter, so kann sie sich zu einer eigenständigen Risikokategorie oder gar zu einer Bedrohung neben den bereits genannten entwickeln.

Im Kern aber stellen die o.g. Hauptrisiken keine klassische Kriegsherausforderung dar, wohl aber Formen einer potentiell gewaltförmigen und oft langwierigen Auseinandersetzung zwischen ungleich gerüsteten Gegnern. Gemeinsam ist ihnen, dass

  • kein Staat alleine und mit nationalen Mitteln für seine Bürger vollständige Sicherheit gegen diese Risiken gewährleisten kann;
  • diesen Risiken aufgrund ihres transnationalen Charakters nicht ausschließlich mit Maßnahmen innerhalb eines einzelnen nationalen Territoriums begegnet werden kann;
  • hundertprozentige Sicherheit weder möglich noch – wegen der demokratie-gefährdenden, innenpolitisch-autoritären Nebeneffekte – für einen demokratischen Rechtsstaat wirklich erstrebenswert sein kann;
  • diese Risiken nur eingehegt und eingedämmt, kaum aber eliminiert werden können;
  • militärische Mittel nur in sehr begrenztem Maße und schon gar nicht alleine in der Lage sind, diese Risiken einzudämmen;
  • etliche dieser Risiken Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit in neuer Weise mit einander verbinden;
  • bestmögliche Sicherheit in multilateraler Kooperation auf Basis internationaler Rechtsgrundlagen und mittels eines ressortübergreifenden Ansatzes einer Sicherheitspolitik aus einem Guss, erzielt werden kann und
  • diesen Risiken am besten präventiv und nicht reaktiv begegnet werden kann.

In den westlichen Gesellschaften wächst derzeit das Bewusstsein der eigenen strukturellen Verwundbarkeit angesichts dieser asymmetrischer Risiken und Gewaltformen. Ihnen wird deutlich, dass die globalen Veränderungen, von denen sie wirtschaftlich und politisch profitieren, diese Risiken mit verursachen bzw. sogar verstärken. Deutlich wird, dass sie multinationale oder sogar globale Antworten zur Sicherheitsvorsorge erfordern, Antworten die nur erfolgversprechend entwickelt und umgesetzt werden können, wenn unterschiedlichste staatliche Handlungs- und Steuerungsinstrumente der Sicherheitspolitik verzahnt und integriert werden und wenn neue Formen zwischenstaatlicher und multilateraler Kooperation eingegangen bzw. vorhandene Kooperationsformen und –institutionen gestärkt werden. Diese Herausforderungen können nur als Querschnittsaufgabe und im Rahmen einer Sicherheitspolitik bewältigt werden, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Konflikten vorrangig präventiv und mit einem wirksamen Mix aus allen außen- und sicherheitspolitischen Wirkinstrumenten eines Staates begegnet wird. Diese finden sich in der Außenpolitik, in der Wirtschaft- und Außenhandelspolitik, in der Entwicklungspolitik und in der Rüstungskontroll-, Sicherheits- und Militärpolitik. Letzterer kommt dabei in den allermeisten Fällen die Rolle einer Rückversicherung gegen Erpressungsversuche und damit eines letzten Mittels zu, weil ihr präventiver oder zu frühzeitiger Einsatz die Wirksamkeit anderer Instrumente genauso oft in Frage stellen würde.

Die politische Aufgabe, Weltordnung zu gestalten kann zugleich nur mithilfe eines möglichst effizienten Multilateralismus und kooperativer Multipolarität erfolgversprechend angegangen werden. Internationale Institutionen müssen an neue Aufgabenstellungen angepasst und deutlich in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Dies aber geht nur, wenn deren Mitglieder diesen Prozess befördern und aktiv im Rahmen ihrer nationalen Politik mitwirken, zu einem effizienten Multilateralismus beizutragen. Auch eine Stärkung kooperativer Multipolarität kann einen wesentlichen Beitrag leisten. Sie ist im globalen und oft sogar im regionalen Maßstab ohne die USA, Europa, Japan, Russland, Indien, China oder beispielsweise Brasilien nicht denkbar.


Offene Fragen und notwendige Diskussionspunkte

Der Blick auf die Risiken und das sicherheitspolitische Umfeld lässt zwei wahrscheinliche Haupteinsatzformen für die Bundeswehr erkennen. Auf diese wollen wir uns hier konzentrieren. Es sind erstens Einsätze, die man als Stabilisierungsmissionen bezeichnen kann und zweitens Einsätze, die einen stärker interventionistischen Charakter haben. Sie seien Eingreifeinsätze genannt.

Mit Stabilisierungsmissionen können z.B. ein Waffenstillstand überwacht, ehemalige Kriegesparteien getrennt, der Ausbruch von Kämpfen verhindert, der Wiederaufbau nach einem Krieg oder Wahlen abgesichert werden. Sie können zudem einen präventiven Charakter haben, z.B. den Ausbruch von Kampfhandlungen verhindern. In den meisten Fällen werden sie auf Basis eines UNO-Mandates erfolgen. Oft dauern sie relativ lange. Mit einem niedrigen oder mittleren Gewaltniveau ist zu rechnen.

Eingreifeinsätze sind oft Kampfeinsätze und können der militärischen Erzwingung eines Waffenstillstandes und seiner Einhaltung dienen, also einen Stabilisierungseinsatz vorbereiten. Sie sind meist von einem mittleren oder hohen Gewaltniveau gekennzeichnet, in der Regel kürzer als Stabilisierungsmissionen und – so die bisherige Erfahrung – recht häufig nicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen, sondern durch verschiedene Formen der Selbstmandatierung der intervenierenden Parteien gegründet. Diese Vorgehensweise eröffnet die Möglichkeit, Eingreifeinsätze durchzuführen, die ihre Begründung in den Interessen der intervenierenden Staaten finden, nicht aber in einer völkerrechtlichen Legitimation.

Während in den Jahren unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges Bundwehreinsätze in der Regel in Folge von Anforderungen der Vereinten Nationen erfolgten und somit auch dazu dienten, die Handlungsfähigkeit der VN zu stärken, erfolgen sie in den letzten Jahren immer häufiger auf Anfrage der NATO und zunehmend auch der EU. Während die Anfragen der EU derzeit im Wesentlichen noch Stabilisierungsmissionen betreffen, weisen die Anfragen aus der NATO immer wieder in eine andere Richtung: Die Bundeswehr wird zu Entsatz- und Ergänzungsleistungen aufgefordert, die die Politik der USA, des größten NATO-Partners, unterstützen und absichern sollen. Gerade auf solche Anforderungen werden oft mittels tagespolitischer Flexibilität Antworten entworfen, die offensichtlich akuten Drucksituationen entspringen als einer längerfristigen, strategischen Ausrichtung und Planung deutscher Sicherheitspolitik. Doch ist das klug? Ist es durchhaltbar? Führt es in die richtige Richtung?

Die Beteiligung der Bundeswehr an solchen Missionen wirft grundsätzliche Fragen für die weitere Diskussion auf, die mehr als eine tagespolitische Antwort verdienen. Einige dieser Fragen sollen zum Abschluss dieses Beitrages als Einstieg für die Diskussion benannt werden.

  1. Bedarf es einer neuen, grundsätzlichen Klärung der Frage, welche Rechtsgrundlagen für einen Einsatz der Bundeswehr gegeben sein müssen bzw. sollten?
    Soll die Bundeswehr nur eingesetzt werden, wenn eine völkerrechtlich eindeutige Rechtsgrundlage in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen gegeben ist oder reicht – in Fällen, in denen ein Beschluss z.B. durch eine Vetomacht blockiert wird – auch eine multinationale Selbstmandatierung aus, die sich im Einklang mit den Prinzipien der Charta befindet oder dies für sich behauptet?
    Sollten die Beschlüsse der NATO, den NATO-Vertrag so auszulegen, dass er vielfältige Operationen überall auf der Welt erlaubt, ein Anlass sein, zum einen zu überprüfen zu lassen, ob diese Interpretation mit dem NATO-Vertrag übereinstimmt und zum anderen eine verfassungsrechtliche Überprüfung herbeizuführen, ob die NATO auch heute noch die Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr erfüllt, die das Bundesverfassungsgericht 1994 aufgestellt hat?
    Reicht das Parlamentsbeteiligungsgesetz zur Beachtung des Parlamentsvorbehaltes aus oder sollte dieses Gesetz entweder verschärft werden, um z.B. Einsätze des KSKs besser kontrollieren zu können oder entschärft werden, um die Handlungsfreiheit der Exekutive zu vergrößern, wie dies in jüngster Zeit immer wieder vorgeschlagen wird, um auf veränderte Anforderungen z.B. der NATO besser reagieren zu können? Ergänzend: Wäre es sinnvoll, im Parlamentsbeteiligungsgesetz mit einem Quorum zu arbeiten, um Bundeswehreinsätze auf eine möglichst breite Basis zu stellen? Sollten die Kontrollrechte des Bundestages jenseits des Parlamentsbeteiligungsgesetzes gestärkt werden?
  2. Welche Verpflichtungen legitimieren einen Bundeswehreinsatz im Ausland politisch?
    Ist es im Interesse der Bundesrepublik, die Vereinten Nationen und deren Regionalorganisationen zu stärken? Wie stark ist das Interesse der Bundesrepublik daran, die Europäische Union auch militärisch handlungsfähig zu machen und zu welchen Handlungen sollte sie befähigt werden? Wie stark ist das Interesse Deutschlands daran, bei Auslandseinsätzen der NATO mitzuwirken oder unter bestimmten Voraussetzungen mitwirken zu können? Muss Deutschland mitwirken können, um mitentscheiden zu können? Ist diese Frage unterschiedlich zu beantworten, wenn die NATO Ort der kollektiven Konsultation oder Ort der kollektiven Entscheidungsfindung ist?
  3. Welche sachlichen Kriterien sollten als Voraussetzung für einen Bundeswehreinsatz im Ausland erfüllt sein? Ist eine eindeutige Benennung des Auftrags, des Ziels, der einzusetzenden Mittel und einer Exit-Strategie (auch für den Fall des Scheiterns) wünschenswert oder sogar zwingend?
  4. Welche Auswirkungen hat das radikal veränderte sicherheitspolitische Umfeld der Gegenwart für die Bedeutung des militärischen Faktors und die wünschenswerte militärische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik? Verliert der militärische Faktor an Bedeutung und sollte er deshalb auch mit relativ geringeren Ressourcen ausgestattet werden? In welchem Maße sollte die Bundesrepublik neben ihren präsenten militärischen Fähigkeiten permanent präsente nicht-militärische Kapazitäten des Krisenmanagements aufbauen und in welchen Bereichen sollte dies ggf. vorrangig geschehen? Wie kann sichergestellt werden, dass nicht-militärische und militärische Fähigkeiten Deutschlands (oder der ESVP) im Mix und so effizient wie möglich in einer Krise zum Einsatz gebracht werden?


Ergeben sich analoge Fragestellungen hinsichtlich der Prioritäten im Blick auf die Industriepolitik? Um die Phantasie anzuregen: Können Investitionen in erneuerbare Energien und energiesparende Technologien, die Deutschland unabhängiger von Gas und Öl machen, heute möglicherweise einen größeren Beitrag für die Sicherheit Deutschlands als die Aufrechterhaltung einer wehrtechnischen Kernkompetenz wie z.B. zum Bau von Kampfpanzern? Eine erste Vorlage ist unterbreitet – sie ist sicher weder vollständig noch perfekt. Wäre sie es, gäbe es einen kaum den Bedarf, zu debattieren und zu streiten.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS