25. Jahrestag NATO-Doppelbeschluss - Die atomare Vergangenheit der amerikanischen
Neokonservativen
von Gerhard Piper
Am 12. Dezember 1979, vor genau 25 Jahren, kamen in Brüssel die Außen- und
Verteidigungspolitiker der NATO-Staaten zu einer Konferenz zusammen, um einen
weitreichenden Beschluss [1] zufassen. Das Abschlusskommunique der Versammlung enthielt
zwei Bestimmungen:
1. Die NATO sollte in Verhandlungen mit der Regierung der Sowjetunion eine
vollständige Abrüstung der sowjetischen Mittelstreckenraketen SS-20 Pionier anstreben.
2. Sollten diese Gespräche scheitern, wollte die NATO als Gegengewicht eigene
Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II XR und Marschflugkörper vom Typ Griffin
aufstellen.
Wegen dieser Kombination eines Gesprächsangebot mit einer Aufrüstungsdrohung wurde
die Entscheidung der NATO als Doppelbeschluss [2] bekannt. Zugleich enthielt er eine
sogenannte Doppel-Null-Lösung: Keine Pershings und Griffins im Westen, wenn im Osten
keine SS-20 Pionier verblieben.
Auf den ersten Blick sollte man meinen, dass dieses Gesprächsangebot fair gewesen und
von jedermann unterstützt worden wäre, aber das genaue Gegenteil war der Fall. In Europa
gingen Millionen Menschen auf die Straße, um gegen den "Nachrüstungsplan" der
NATO zu protestieren. Kein anderer Beschluss der NATO war jemals so umstritten gewesen wie
dieser Doppelbeschluss - und kein anderer hatte so gefährliche Folgen: Im Oktober 1983
entging Europa nur um Haaresbreite dem Beginn eines atomaren Krieges.
Gleichgewicht des Schreckens
Dazu muss man sich das im Kalten Krieg vorherrschende Kriegsszenario vergegenwärtigen:
Die Atomstrategen gingen davon aus, dass zunächst ein konventioneller Krieg zwischen der
NATO und dem Warschauer Pakt in Europa ausbrechen würde, in dem schließlich auch
taktische Atomwaffen eingesetzt werden würde. Anschließend würde es zu einem
strategischen Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion kommen, in dem sich
beide atomaren "Supermächte" gegenseitig vernichteten. Weil aber die
Regierungen in Washington und Moskau kein Interesse an der totalen Zerstörung ihrer
Länder haben könnten, würde ein atomarer Krieg verhindert werden. Jeder
Atomwaffeneinsatz wäre mithin nur eine Selbstmordoption.
Diese Szenario funktionierte, solange beide Supermächte militärisch ungefähr gleich
stark waren. Dazu vereinbarten beide Supermächte in den SALT-Abkommen Obergrenzen für
ihre strategischen Atomwaffenarsenale aus Bombern, Interkontinentalraketen und
U-Boot-Raketen.
Durch ihre Nachrüstung versuchte die NATO, dieses "Gleichgewicht des
Schreckens" zu ihren Gunsten zu kippen: Die Mittelstreckenraketen SS-20, die seit
1975 von der Sowjetunion eingeführt wurden, waren taktische Atomwaffen, da sie von
sowjetischen Territorium "nur" die NATO-Staaten in Westeuropa, nicht aber die
USA selbst treffen konnten. Demgegenüber waren die 108 Abschussrampen für die Pershing
II XR und die 464 Marschflugkörper strategische Atomwaffen, mit denen man von Westeuropa
Ziele auf sowjetischem Territorium treffen konnte.
Hinzu kam noch ein wichtiges technisches Merkmal der neuen US-Raketen: Während die
amerikanischen Interkontinentalraketen Titan und Minuteman von den USA bis zur Sowjetunion
eine Flugzeit von rund 30 Minuten benötigten, konnte die Pershing II XR [3] ihre Ziele
schon nach acht Minuten erreichen. Dies hatte zweierlei Folgen.
1. Im Falle eines atomaren Fehlalarms, wie er damals alle paar Wochen vorkam, würde
möglicherweise zuwenig Zeit verbleiben, um den technischen Fehler für die irrtümliche
Auslösung des Alarms zu finden.
2. Bei der kurzen Flugzeit konnten die Pershings die politischen und militärischen
Kommandozentralen in Moskau vernichten, bevor diese evakuiert werden könnten. Damit waren
die Pershings besonders für einen Erstschlag geeignet.
Zwar wurde der Doppelbeschluss noch von der Carter-Regierung ausgehandelt, aber sein
Nachfolger übernahm diese Politik uneingeschränkt. Am 20. Januar 1981 wurde Ronald
Reagan als US-Präsident vereidigt. Mit ihm zogen erstmals zahlreiche Neokonservative ins
Weiße Haus ein, die heutzutage erneut für Schlagzeilen sorgen: George Herbert Walker
Bush, Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Richard Perle, etc. Der damalige Verteidigungsminister
Caspar Weinberger formulierte als Ziel der amerikanischen Militärpolitik: Die Sowjetunion
solle nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln zugrunde gehen.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die amerikanische Politik von der
sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, der sich selbst für einen
großen Strategen hielt, voll unterstützt, obwohl innerhalb der SPD die Zahl der
kritischen Stimmen zunahm.
Friedensbewegung und Grüne
Die schwache Friedensbewegung brauchte einigen Anlauf, um sich in die neue
Militärproblematik einzuarbeiten. Im Herbst 1980 fanden Bundestagswahlen statt und im
Wahlkampf spielten militärpolitische Fragen zunächst noch keinerlei Rolle. Erst am
15./16. November 1980, also fast ein Jahr nach dem Doppelbeschluss, trafen sich im
Seidenweberhaus in Krefeld rund 1.000 Friedensaktivisten zum Wochenendkongress "Der
Atomtod bedroht uns alle", um über die neuen Atomgefahren zu debattieren. Auf dem
Podium saßen Petra Kelly, General a. D. Gert Bastian und Martin Niemöller. Am Ende des
Kongresses wurde noch hastig ein Krefelder Appell [4] gegen die Raketenrüstung
verabschiedet.
Im Januar 1981 erschien dann in der Illustrierten Stern ein Artikel "Atomrampe
BRD", in der der Autor Wolf Perdelwitz auf die rund hundert geheimen Atomwaffendepots
in der Bundesrepublik Deutschland hinwies. Durch diesen Text wurde deutlich, dass fast
jeder Bundesbürger in der Nähe von einem Atomwaffenlager lebte. Damit wurde der Artikel
zur Initialzündung für das Entstehen einer breiten Friedensbewegung. Überall im Lande
gründeten sich Friedensgruppen und im Laufe der Jahre 1981 und 82 unterschrieben rund 3
Millionen Bundesbürger den Krefelder Appell gegen die Atomraketenrüstung. Die
grassierende Angst vor einem bevorstehenden Atomkrieg trieb die Zahl der Auswanderer in
die Höhe.
Gegen die NATO-Politik wetterten auch die Grünen, die sich 1979 als Partei gegründet
hatten. Sie stellten im April 1981 beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige
gegen die Bundesregierung. In der Klageschrift [5] hieß es:
"Da die neuen US-Waffen (..) ausschließlich und eindeutig die Eigenschaften von
Erstschlagswaffen besitzen, die das bislang herrschende atomare Gleichgewicht
durchbrechen, macht sich die deutsche Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu diesem
Stationierungs-Beschluß der Vorbereitung eines Angriffskrieges schuldig."
Jahre später, im März 1999, waren es ausgerechnet die Grünen, die als
Koalitionspartner der rot-grünen Bundesregierung zum ersten Mal einen deutschen
Angriffskrieg ohne UN-Mandat gegen das Kosovo anstifteten.
Durch ihre damalige konsequente Ablehnung der NATO-Politik konnten die Grünen
zahlreiche Anhänger gewinnen und bei den Wahlen im März 1983 erstmals in den Bundestag
einziehen. Der Einzug ins Parlament führte aber nicht zu einer Stärkung der
Friedensbewegung, vielmehr verlor die Bewegung an Schwung und delegierte stattdessen ihre
Erwartungen an die Grüne Fraktion im Bundestag. Nach Jahren der Dauermobilisierung war
die Anti-Atom-Bewegung ausgelaugt, und als am 14. November 1983 die ersten Pershing II
tatsächlich aus den USA in die BRD eingeflogen wurden, gab es nur noch geringe Proteste.
Operation RYAN
Während die Bürger in der Bundesrepublik wieder zu ihrem Alltagstrott zurückgekehrt
waren, tobte bei den Geheimdiensten und Militärs der Existenzkampf um so heftiger. Im
NATO-Hauptquartier spionierte etwa Rainer Rupp (Deckname TOPAS) für das Ministerium für
Staatssicherheit der DDR die vermeintlichen Kriegsvorbereitungen aus, KGB-Oberst Oleg
Gordiewsky arbeitete zugleich als Doppelagent für den britischen Geheimdienst und warnte
seine Auftraggeber vor der zunehmenden Raketen-Hysterie in Moskau.
Die sowjetische Regierung verstand die aggressive Militärpolitik der Neokonservativen
als Versuch, die Sowjetunion und den Warschauer Pakt zu zerschlagen. Dagegen mobilisierte
KP-Generalsekretär Leonid Breschnew seine Geheimdienste. Der zivile KGB und der
militärische GRU starteten im April 1981 ihre größte gemeinsame Aktion in
Friedenszeiten: Operation RAKETNO-YADERNOYE NAPADENIE [6] (= atomarer Raketenangriff -
RYAN). Die Operation RYAN wurde entwickelt auf Grundlage der Erkenntnisse über die Alarm-
und Kriegsplanung der NATO und ihrer Notstandsvorbereitungen. Sie machte deutlich, dass
die amerikanischen Neokonservativen bereits damals auf eine Politik (atomarer) Präventiv-
und Präemptivschläge setzten.
In der KGB-Instruktion Nr. 6282/PR/52 vom 17. Februar 1981 hieß es:
"Die Tatsache, dass der Feind einen beträchtlichen Teil seiner strategischen
Streitkräfte in erhöhter Gefechtsbereitschaft hält, (..) macht es notwendig, Hinweise
für die Vorbereitung eines atomaren Raketenangriffs zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu
entdecken, noch bevor der Befehl an die Truppen zum Einsatz nuklearer Waffen erteilt
wurde. (..) Die Entdeckung eines Abschusses von strategischen Raketen (..) würde nach
einer Stationierung von 'Pershing II' in der BRD beträchtlich reduziert, da deren
Flugzeit zur Erreichung von langstrecken Zielen in der Sowjetunion mit 4-6 Minuten
eingeschätzt wird. (..) Das 'Battle Alarm System' (der NATO, G. P.) sieht zwei Stufen der
Gefechtsbereitschaft vor: Ein 'Orange'-Alarm und ein 'Scarlet'-Alarm. 'State Orange' wird
erklärt, wenn 'ein Angriff möglicherweise erwartet wird' in unmittelbarer Zukunft
(innerhalb von 36 Stunden), ein 'State Scarlet' dann, wenn militärische Kampfhandlungen
bereits begonnen haben oder wahrscheinlich in wenigen Minuten beginnen werden."
Daher wurden die sowjetischen Geheimdienstniederlassungen im Ausland angewiesen, auf
den kleinsten Hinweis für einen bevorstehenden Atomangriff zu achten. So erhielten die
KGB-Residenten am 17. Februar 1983 die Direktive Nr. 374/PR/52, die zwanzig Indikatoren
für einen unmittelbaren Kriegsbeginn auflistete:
"Halte die wichtigsten Regierungsinstitutionen, Hauptquartiere und anderen
Anlagen, die an der Vorbereitung eines atomaren Raketenangriffs beteiligt sind, unter
ständiger Beobachtung. (..) Bestimme das 'normale Tätigkeitsniveau' dieser Ziele
während und außerhalb der Arbeitsstunden, z. B. die äußeren Merkmale ihrer täglichen
Aktivitäten unter normalen Bedingungen (Differenzen der Zahl der dort geparkten Autos am
Tage und am Abend, die Zahl der beleuchteten Zimmer während und nach der Arbeitszeit und
Aktivitäten um diese Ziele herum an arbeitsfreien Tagen). Finde, auf Basis der
festgestellten 'normalen Tätigkeitsniveaus', jede Veränderung dieser Merkmale bei
Sonderkonferenzen in einer Krisensituation heraus."
In einer weiteren KGB-Direktive Nr. 14954/KR vom 12. August 1983 nannten weitere
sechzehn Notstands-Indikatoren für einen bevorstehenden Kriegsbeginn:
"Verschärfung der repressiven Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden gegen
progressive Organisationen und Personen, (..) Beschränkungen für die Nutzung des
Telefon- und Telegraphennetzes für Privatpersonen, Verschärfung der militärischen
Zensur und Einführung von Postkontrollen, (..)."
Der inzwischen zum Generalsekretär ernannte Juri Andropow fasste die sowjetischen
Befürchtungen am 28. September 1983 in folgender Warnung zusammen:
"Eine ungeheure militärische Psychose hat die Vereinigten Staaten erfasst. Die
Reagan-Regierung geht in ihren imperialen Ambitionen so weit, dass man anfängt, daran zu
zweifeln, ob Washington überhaupt irgendwelche Bremsen besitzt, die es davon abhalten,
den Punkt zu überschreiten, an dem jede vernünftige Person Halt machen würde."
NATO-Übung ABLE ARCHER
Wenige Tage vor der Stationierung der Pershing II XR in der Bundesrepublik führte die
NATO eine ihrer geheimen Nuklearübungen durch. Bei der Stabsrahmenübung ABLE ARCHER [7]
vom 2. bis 11. November 1983 durchliefen imaginäre NATO-Truppen alle Stufen der
Alarmierung von der normalen Gefechtsbereitschaft in Friedenszeiten bis zum allgemeinen
Gefechtsalarm. Gegenüber früheren NATO-Übungen wurden dabei für den Übergang vom
konventionellen zum atomaren Krieg neue Formate für die entsprechenden Funkbefehle
verwendet.
Diese wurden vom russischen Abhördienst aufgefangen. Dabei stellten die Sowjets fest,
dass die neuen Funksprüche ein anderes Format als die früheren Übungs-Funkbefehle
hatten. Sie schlossen dabei aber nicht auf ein neues Übungs-Format, sondern vermuteten
irrtümlich, dass es sich um die lange erwarteten echten Befehle zum Nuklearangriff
handelte. In der Nacht vom 8. auf den 9. November warnte das KGB-Hauptquartier in Moskau
seine Auslandsniederlassungen, dass es eine Mobilmachung auf den US-Stützpunkten in
Westeuropa gäbe, obwohl dies real nicht der Fall war.
Über die Reaktion der Sowjets schrieb der damalige Leiter der CIA-Auswertungsabteilung
Robert Gates in seinen Memoiren "From the Shadows":
"Zwischen dem 2. und 11. November gab es beträchtliche Aktivitäten der Sowjets
und anderer Streitkräfte des Warschauer Paktes im Baltischen Militärbezirk ebenso wie
bei den Streitkräften der DDR, Polens und der Tschechoslowakei in Reaktion auf die
Vorbereitung und Durchführung der Übung selbst. Teile der Luftstreitkräfte der Gruppe
der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland wurden in erhöhte Alarmbereitschaft
versetzt, (..)."
Die Operation RYAN wurde noch bis zum Sommer 1984 fortgesetzt, ohne dass die
sowjetische Spionage reale Hinweise für einen NATO-Angriff auf die Sowjetunion liefern
konnte. Erst allmählich dämmerte es den Geheimdienstoberen in Moskau, dass ihre
Auslandsniederlassungen keine entsprechenden Hinweise liefern konnten, weil es solche
Vorbereitungen nicht gab. Schließlich wurde die Operation eingestellt.
Die Kriegsgefahr hatte im Nachhinein einen positiven Effekt. In Moskau konnte mit
Michail Gorbatschow erstmals ein gemäßigter Politiker an die Macht kommen, der nach
einen Ausweg aus der wechselseitigen atomaren Bedrohung des Kalten Krieges suchte und eine
radikale Kehrtwendung in der sowjetischen Politik einleitete. In seiner Rede vor dem 27.
Parteitag der KPdSU bekannte Gorbatschow:
"Die Weltlage war vielleicht niemals in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit so
gefährlich, wie in der ersten Hälfte der achtziger Jahre."
Ahnungslose Amerikaner
Im "alten Europa" waren Millionen von Bürgern auf die Straße gegangen, um
gegen die Gefahr eines atomaren Krieges durch die neuen strategischen US-Atomwaffen zu
demonstrieren, und die sowjetischen Geheimagenten gingen jahrelang dem kleinsten Hinweis
auf einen unmittelbaren Angriffsbeginn nach. Dennoch bekamen die amerikanischen
Geheimdienste von der ganzen Atomkriegsgefahr jahrelang nichts mit. Sie hielten das Gerede
von der Atomkriegsdrohung lediglich für anti-amerikanische Propaganda der kommunistischen
Agitprop-Spezialisten.
Erst im Mai 1984 dämmerte den amerikanischen Geheimdiensten, dass die sowjetische
Seite während des ABLE ARCHER-Manövers sich in ihrer Existenz bedroht gefühlt hatte und
ihrerseits Vorbereitungen für einen Gegenschlag getroffen hatten. Die Existenz der USA
hatte somit auf der Kippe gestanden, ohne dass die US-Geheimdienste dies bemerkt hatten.
Im Mai 1984 verfassten die US-Nachrichtendienste CIA und DIA hierzu einen ersten,
konservativen Bericht mit dem Titel "Die Implikationen der jüngsten sowjetischen
militär-politischen Aktivitäten". Der Report stieß bei den US-Geheimdienstleuten
auf ein geteiltes Echo. Robert Gates berichtete hierzu in seinen Memoiren 1996:
"Wir rangen mit dieser Kontroverse für ein weiteres Jahr, unsere eigenen Experten
waren zerstritten. Die Angelegenheit war fürchterlich wichtig. Waren die USA im
vorangegangenen Herbst nahe an einer Nuklearkrise und hatten dies nicht einmal gemerkt?
War die sowjetische Führungsschicht so weltfremd, dass sie wirklich glaubte, ein
präemptiver Angriff sei eine reale Bedrohung? Hatte es beinahe ein fürchterliches
Missverständnis gegeben? (..) Im Jahre 1990 ergab eine erneute Auswertung der ganzen
Affäre durch den Geheimdienstausschuss des Präsidenten (PFIAB), dass das Vertrauen
unserer Nachrichtendienstgemeinde darauf, dass das Ganze lediglich sowjetisches Gehabe
gewesen sei, um einen politischen Effekt zu erzielen, unangemessen sei."
INF-Abkommen
Obwohl die US-Geheimdienste sich nicht offen eingestehen konnten, dass sie
fürchterlich versagt hatten, zogen die politischen Führer die notwendigen Konsequenzen.
Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Reagan und Gorbatschow das Abkommen über Intermediate
Range Nuclear Forces [8] (INF) zur vollständige Abrüstung der Pershing II XR, der
Griffins und der SS-20 Pionier in Europa. Lediglich die seegestützte Variante der
Griffins, die Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, blieb weiter bei den
US-Flottenverbänden im Einsatz. Noch heute kann man die Griffin-Bunker im pfälzischen
Hasselbach besichtigen. In der früheren Pershing-Kaserne der 56th Field Artillery Brigade
in Schwäbisch-Gmünd wohnen heute Studenten-WGs. Von der alten Anti-Atombewegung ist vor
Ort noch die Pressehütte Mutlangen [9] erhalten, wo regelmäßig Seminare zu
friedenspolitischen Themen stattfinden.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen (Wieder-)Vereinigung 1989/90 gehört
die Atomkriegsgefahr in Europa - hoffentlich - der Vergangenheit an. Aber damit ist das
Problem, das Mittelstreckenraketen mit ABC-Gefechtsköpfen aufgrund ihrer kurzen Flugzeit
darstellen, noch längst nicht aus der Welt geschafft. Es hat sich nur von Europa in die
Krisenregionen der Dritten Welt verlagert, wo immer mehr Schwellenländer nach dem Erwerb
eigener Massenvernichtungswaffen streben: Israel (Jericho II-Raketen), Syrien (Scud-C),
Irak (Al Abbas), Iran (Shahab-3), Pakistan (Ghauri) und Indien (Agni). Und die alten
amerikanischen Neokonservativen sind wieder aktiv, wenn es darum geht, die Raketenrüstung
anderer Staaten zu eliminieren, sei es auf friedlichem Wege oder durch Waffeneinsatz. Nach
dem Irak steht im kommenden Jahr vermutlich der Iran auf der politischen Agenda in
Washington ganz oben.
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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