Eine Frage der Zählweise
Mit dem neuen Start-Vertrag rüsten die USA und Russland viel weniger
ab als gedacht – eine Analyse
von Otfried Nassauer
Barack Obama und Dmitri Medwedew klopfen sich auf die Schultern. Nach
einem Jahr harter Verhandlungen haben die USA und Russland sich auf ein
neues Abrüstungsabkommen über strategische Atomwaffen verständigt:
den neuen Start-Vertrag. Künftig dürfen Russland und die USA
demnach jeweils noch bis zu 1550 nukleare Sprengköpfe und bis zu
700 strategische Trägersysteme einsatzbereit halten. Trägersysteme
sind Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte Langstreckenraketen
und Langstreckenbomber. Insgesamt sind beiden Staaten dann jeweils 800
Trägersysteme erlaubt, wenn mindestens 100 nicht einsatzbereit sind.
Sieben Jahre nach Inkrafttreten des neuen Vertrages müssen die neuen
Grenzen eingehalten werden.
Das Weiße Haus und der Kreml preisen nun den erreichten Abrüstungsfortschritt:
Bei den Trägersystemen sei im Vergleich zum Start-1-Abkommen eine
Reduzierung um mehr als die Hälfte vereinbart worden. Bei den atomaren
Sprengköpfen sei eine Reduzierung um 30 Prozent gegenüber dem
Moskauer SORT-Vertrag von 2002 vorgesehen und um 74 Prozent im Vergleich
zu den Obergrenzen des Start-I-Vertrages von 1991.
Die Reduzierungen klingen imposant, und das sollen sie auch. Washington
und Moskau haben ein starkes Interesse daran, rechtzeitig vor Beginn der
Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag im
Mai 2010 ihre Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung zu demonstrieren.
Dieser völkerrechtlich verbindliche Vertrag verpflichtet die Nuklearwaffenstaaten
seit 40 Jahren, ihr Atomwaffenpotenzial abzuschaffen.
Fragt man jedoch, wie viele Atomwaffen aufgrund des neuen Vertrages wirklich
abgerüstet werden müssen, so überrascht das Ergebnis. Trägersysteme
und Sprengköpfe werden nur scheinbar drastisch reduziert. Die bisherige
Obergrenze von 1600 Trägersystemen stammt aus dem Jahr 1991 und wird
schon lange deutlich unterschritten. Auch die Zahl der Sprengköpfe
muss nicht drastisch reduziert werden, weil sich sowohl die USA als auch Russland
bereits jetzt in der Nähe der erlaubte Höchstgrenze aus dem SORT-Vertrag, 2200
Sprengköpfe, bewegen. Der neue Start-Vertrag verpflichtet zum größten
Teil zur Abrüstung von Waffen, die es nicht mehr gibt.
Die Zahlen belegen es: Dem jüngsten Datenaustausch nach dem Start-1-Abkommen
zufolge verfügten die USA 2009 über 1198 Trägersysteme
und Russland über 814. Beide Zahlen spiegeln nicht die Realität,
da viele Waffen mitgezählt werden, die bereits nicht mehr im Einsatz
aber auch noch nicht vorschriftsgemäß vernichtet wurden. Realistischer
sind präzise Schätzungen von Experten. Sie gehen davon aus,
dass die USA über rund 800 aktive Trägersysteme verfügen
und Russland über 566. Auf diesen sind in den USA rund 2200 aktive
Sprengköpfe stationiert und in Russland etwa 2500. Umfassend abgerüstet
werden muss deshalb auf keiner Seite, Moskau dürfte sogar zusätzliche
Trägersysteme anschaffen. Lediglich bei den Sprengköpfen käme
es zu Reduzierungen.
Details des neuen Vertrages bringen jedoch auch diese Annahme ins Wanken.
Strategische Bomber werden im neuen Start-Vertrag als ein Nuklearwaffe
gezählt, im alten Start-Vertrag zählten sie als zehn Waffen.
Das Ergebnis der Zahlenspielerei ist ein signifikanter Abrüstungsschritt,
der gar nicht stattfindet. Am Beispiel der USA: Washington besaß
2009 – nach Start-Zählweise – insgesamt 94 Bomber vom Typ B-52H,
die formal 940 atomare Marschflugkörper tragen. Nach den neuen Start-Zählregeln
werden die 94 Bomber künftig als 94 atomare Waffen gezählt.
Rechnerisch werden so 846 Atomwaffen abgerüstet, ohne dass eine einzige
außer Dienst gestellt werden muss. Gleiches gilt auch für russische
Bomber.
Die neue Zählweise hat auch Folgen für die Zahl der künftig
erlaubten Sprengköpfe: Zählt jeder Bomber nur als ein Sprengkopf,
können beide Vertragspartner auch 1700 oder 1800 Sprengköpfe
behalten, ohne die künftige Obergrenze von 1550 Sprengköpfen
zu verletzten. Die USA besitzen z.B. noch mehr als 350 atomare Marschflugkörper.
Enthält der Vertrag keine technische Vereinbarung, die erzwingt,
dass diese Zahl reduziert wird, so zählen sie künftig nur als
94 Waffen. Die „Lücke“ macht es möglich, mindestens 1800 aktive
Sprengköpfe zu behalten, ohne die vertragliche Grenze von 1550 Sprengköpfen
zu überschreiten.
Der neue Start-Vertrag umgeht zudem zwei Kernprobleme in den amerikanisch-russischen
Beziehungen. Washington betont, der Vertrag schränke die US-Pläne
für den Aufbau von Raketenabwehrsystemen und die Entwicklung konventioneller
Langstreckenraketen nicht ein. Deshalb hofft man, dass genug Republikaner
dem Vertrag im Senat zustimmen, sodass er in Kraft treten kann. Moskau
sieht es anders: Der neue Vertrag wahre die Interessen beider Seiten und
regele auch die strittige Frage der Raketenabwehr verbindlich.
Nach fast 20 Jahren haben Moskau und Washington erstmals wieder einen
Abrüstungsvertrag ausgehandelt, der – trotz Widerständen – auch
ratifiziert werden könnte. Ein positives Signal. Ob es jedoch ausreicht,
um bei der Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages Enttäuschung
oder gar harte Kritik zu vermeiden, bleibt abzuwarten.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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