gekürzte Fassung

erschienen im Tagesspiegel.de
28 . März 2010


Eine Frage der Zählweise

Mit dem neuen Start-Vertrag rüsten die USA und Russland viel weniger ab als gedacht – eine Analyse

von Otfried Nassauer


Barack Obama und Dmitri Medwedew klopfen sich auf die Schultern. Nach einem Jahr harter Verhandlungen haben die USA und Russland sich auf ein neues Abrüstungsabkommen über strategische Atomwaffen verständigt: den neuen Start-Vertrag. Künftig dürfen Russland und die USA demnach jeweils noch bis zu 1550 nukleare Sprengköpfe und bis zu 700 strategische Trägersysteme einsatzbereit halten. Trägersysteme sind Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte Langstreckenraketen und Langstreckenbomber. Insgesamt sind beiden Staaten dann jeweils 800 Trägersysteme erlaubt, wenn mindestens 100 nicht einsatzbereit sind. Sieben Jahre nach Inkrafttreten des neuen Vertrages müssen die neuen Grenzen eingehalten werden.

Das Weiße Haus und der Kreml preisen nun den erreichten Abrüstungsfortschritt: Bei den Trägersystemen sei im Vergleich zum Start-1-Abkommen eine Reduzierung um mehr als die Hälfte vereinbart worden. Bei den atomaren Sprengköpfen sei eine Reduzierung um 30 Prozent gegenüber dem Moskauer SORT-Vertrag von 2002 vorgesehen und um 74 Prozent im Vergleich zu den Obergrenzen des Start-I-Vertrages von 1991.

Die Reduzierungen klingen imposant, und das sollen sie auch. Washington und Moskau haben ein starkes Interesse daran, rechtzeitig vor Beginn der Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag im Mai 2010 ihre Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung zu demonstrieren. Dieser völkerrechtlich verbindliche Vertrag verpflichtet die Nuklearwaffenstaaten seit 40 Jahren, ihr Atomwaffenpotenzial abzuschaffen.

Fragt man jedoch, wie viele Atomwaffen aufgrund des neuen Vertrages wirklich abgerüstet werden müssen, so überrascht das Ergebnis. Trägersysteme und Sprengköpfe werden nur scheinbar drastisch reduziert. Die bisherige Obergrenze von 1600 Trägersystemen stammt aus dem Jahr 1991 und wird schon lange deutlich unterschritten. Auch die Zahl der Sprengköpfe muss nicht drastisch reduziert werden, weil sich sowohl die USA als auch Russland bereits jetzt in der Nähe der erlaubte Höchstgrenze aus dem SORT-Vertrag, 2200 Sprengköpfe, bewegen. Der neue Start-Vertrag verpflichtet zum größten Teil zur Abrüstung von Waffen, die es nicht mehr gibt.

Die Zahlen belegen es: Dem jüngsten Datenaustausch nach dem Start-1-Abkommen zufolge verfügten die USA 2009 über 1198 Trägersysteme und Russland über 814. Beide Zahlen spiegeln nicht die Realität, da viele Waffen mitgezählt werden, die bereits nicht mehr im Einsatz aber auch noch nicht vorschriftsgemäß vernichtet wurden. Realistischer sind präzise Schätzungen von Experten. Sie gehen davon aus, dass die USA über rund 800 aktive Trägersysteme verfügen und Russland über 566. Auf diesen sind in den USA rund 2200 aktive Sprengköpfe stationiert und in Russland etwa 2500. Umfassend abgerüstet werden muss deshalb auf keiner Seite, Moskau dürfte sogar zusätzliche Trägersysteme anschaffen. Lediglich bei den Sprengköpfen käme es zu Reduzierungen.

Details des neuen Vertrages bringen jedoch auch diese Annahme ins Wanken. Strategische Bomber werden im neuen Start-Vertrag als ein Nuklearwaffe gezählt, im alten Start-Vertrag zählten sie als zehn Waffen. Das Ergebnis der Zahlenspielerei ist ein signifikanter Abrüstungsschritt, der gar nicht stattfindet. Am Beispiel der USA: Washington besaß 2009 – nach Start-Zählweise – insgesamt 94 Bomber vom Typ B-52H, die formal 940 atomare Marschflugkörper tragen. Nach den neuen Start-Zählregeln werden die 94 Bomber künftig als 94 atomare Waffen gezählt. Rechnerisch werden so 846 Atomwaffen abgerüstet, ohne dass eine einzige außer Dienst gestellt werden muss. Gleiches gilt auch für russische Bomber.

Die neue Zählweise hat auch Folgen für die Zahl der künftig erlaubten Sprengköpfe: Zählt jeder Bomber nur als ein Sprengkopf, können beide Vertragspartner auch 1700 oder 1800 Sprengköpfe behalten, ohne die künftige Obergrenze von 1550 Sprengköpfen zu verletzten. Die USA besitzen z.B. noch mehr als 350 atomare Marschflugkörper. Enthält der Vertrag keine technische Vereinbarung, die erzwingt, dass diese Zahl reduziert wird, so zählen sie künftig nur als 94 Waffen. Die „Lücke“ macht es möglich, mindestens 1800 aktive Sprengköpfe zu behalten, ohne die vertragliche Grenze von 1550 Sprengköpfen zu überschreiten.

Der neue Start-Vertrag umgeht zudem zwei Kernprobleme in den amerikanisch-russischen Beziehungen. Washington betont, der Vertrag schränke die US-Pläne für den Aufbau von Raketenabwehrsystemen und die Entwicklung konventioneller Langstreckenraketen nicht ein. Deshalb hofft man, dass genug Republikaner dem Vertrag im Senat zustimmen, sodass er in Kraft treten kann. Moskau sieht es anders: Der neue Vertrag wahre die Interessen beider Seiten und regele auch die strittige Frage der Raketenabwehr verbindlich.

Nach fast 20 Jahren haben Moskau und Washington erstmals wieder einen Abrüstungsvertrag ausgehandelt, der – trotz Widerständen – auch ratifiziert werden könnte. Ein positives Signal. Ob es jedoch ausreicht, um bei der Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages Enttäuschung oder gar harte Kritik zu vermeiden, bleibt abzuwarten.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS