SPW
Ausgabe 181 / Dezember 2010


Neue Strategie –Alte Hausaufgaben

von Otfried Nassauer


Hinweis:


Nach zehn Jahren ist es den 28 NATO-Mitgliedern gelungen, sich auf eine neue Strategie zu einigen. Für diese Aufgabe hatte die Allianz einen starken Generalsekretär gesucht und in Anders Fogh Rasmussen gefunden. Das zeigte sich bei der Erarbeitung der Strategie. Rasmussen organisierte Prozess, der zu Beginn von ungewöhnlich breiter öffentlicher Partizipation gekennzeichnet war und in dem Bericht einer Expertengruppe gipfelte, die unter Führung von Madeleine Albright Empfehlungen für die neue Strategie erarbeitete. Diese waren eng mit den Vorstellungen der US-Administration abgestimmt. So offen die erste Phase verlief, so sehr fand die zweite unter größter Geheimhaltung statt. Rasmussen zog die Formulierung der Strategie ganz an sich und verfasste den Entwurf persönlich in seinem Feriendomizil. In den Konsultationen mit den Nationen ließ er nur noch Diskussionen über wichtige Meinungsverschiedenheiten zu. Es entstand ein lesbares und kurzes Dokument aus einer Feder, das aber selbst den Obleuten der Bundestagsfraktionen nur nach Protesten zugänglich gemacht wurde, weil die Entwürfe als „geheim“ eingestuft wurden – ein vordemokratisches Vorgehen der Exekutive, das nach dem Ende des Kalten Krieges seines gleichen sucht.

Das Ergebnis, die Rasmussen-Strategie, ist ein gelungener Versuch, die allianzinternen Widerspruchslinien zu verdecken, Widersprüchliches durch geschickte Formeln zu vereinen und ungelöste Fragen als Zukunftperspektive erscheinen zu lassen. Unter der Überschrift „Aktives Engagement, moderne Verteidigung“ betont die NATO ihre Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebietes und erweitert diese nicht nur um Aufgaben des Krisenmangements, sondern auch um die Verteidigung der „Sicherheit unser Bürger“ gegen neuartige Bedrohungen. Dabei bleibt unklar, ob es um die Bürger innerhalb oder auch außerhalb des Bündnisgebietes geht. Die NATO-Staaten verpflichten sich auf das Ziel einer atomwaffenfreien Welt und bestätigen zugleich „dass solange es Atomwaffen auf der Welt gibt, die NATO eine nukleare Allianz bleibt.“ Es bleibt bei der Forderung, die NATO müsse „die breitestmögliche Teilnahme der Allierten“ im Bereich der nuklearen Teilhabe sicherstellen. Hinzu kommt aber die Aufgabe, „eine Fähigkeit zu entwickeln, um unsere Bevölkerungen und Territorien gegen Angriffe mit ballistischen Raketen zu verteidigen.“ In Zukunft besteht also die Abschreckung des Bündnisses aus Raketenabwehr und Nuklearwaffen. Ob – so die Hoffnung des Auswärtigen Amtes - erstere letztere auf Dauer substituieren werde, darf trotz der Vereinbarung weiterer Gespräche über die künftige Nuklearpolitik der Allianz bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass die NATO angesichts der Notwendigkeit über eine Modernisierung ihrer substrategischen Nuklearwaffen zu entscheiden auf ein Modell aus dem Kalten Krieg zurückgreift: Sie könnte erneut eines Doppelbeschluss fassen. Er würde besagen, dass die NATO ihre substrategischen Nuklearwaffen nur dann modernisiert und behält, wenn auch Russland seine taktischen Nuklearwaffen beibehält.

Eine deutsche Besonderheit darf nicht unerwähnt bleiben. Christop Heusgens, der Sicherheitsberater Angela Merkels, grätschte bereits im November 2009 im Gespräch mit US-Diplomaten, so eine der Depeschen die durch Wikileaks öffentlich wurden, gegen den Koalitionsvertrag und Außenminster Westerwelle: Die Forderung nach einem Abzug der nuklearen Waffen aus Deutschland sei nur auf Drängen der FDP aufgenommen worden – die Bundesregierung aber sorge sich weiterhin im Blick auf die „Tausenden“ russischer taktischer Atomwaffen.

Auch 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges zeigt sich die NATO tief gespalten zwischen jenen Mitgliedern, die vor allem Sicherheit vor Russland organisieren wollen und jenen, die europäische Sicherheit mit Russland ausgestalten ausgestalten wollen. Die NATO glaubt, aus diesem Widerspruch eine Tugend machen zu können, indem sie sowohl heimlich Schritte zur Stärkung der Verteidigung gegen Russland einleitet als auch öffentlich der Partnerschaft und Kooperation mit Russland propagiert. Ein Beispiel: Die neue Strategie betont die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Russland, bietet Russland die Mitarbeit bei der Raketenabwehr an und verspricht eine Stärkung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Das ist nur die halbe Wahrheit. Als Russland im Dezember 2009 im NATO-Russland-Rat einen detaillierten Vorschlag vorlegte, wie die Zusammenarbeit verbessert werden könnte, leakte ein NATO-Land das Papier, damit es auf öffentliche Ablehnung stoßen konnte. Zeitgleich diskutierte die NATO über eine Ausweitung ihrer militärischen Eventualfallplanung zur Verteidigung Polens auf die baltischen Republiken. Durch Wikileaks wurde bekannt, dass die Ausweitung Anfang 2010 beschlossen wurde. Der Beschluss wurde zudem geheim gehalten. Angesichts solcher Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zwischen der öffentlichen Rhetorik und der faktischen Politik der NATO kann es kaum verwundern, dass das ungeklärte Verhältnis zu Russland Fortschritte bei der NATO-Russland-Zusammenarbeit blockieren wird. Beispiel sind die Zukunft der konventionellen und nuklearen Abrüstung in Europa und die Zukunft der NATO-Erweiterung. Wahrscheinlich gilt dies auch für das Angebot, bei der Raketenabwehr zusammenzuarbeiten.

Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass die NATO erneut ihre Zuständigkeiten erweitert. Dies wird nicht nur durch die Einrichtung einer zivil-militärischen Koordinationsstelle deutlich, sondern vor allem bei dem Thema „Cyber-Angriffe“. Zwar verzichtet die neue NATO-Strategie auf die Aussage, dass auch solche Angriffe den Bündnisfall auslösen können, hält es aber auf dem Umweg über Konsultationen nach Art.4, die zur Ausrufung des Bündnisfalls führen können, offen. Anders Fogh Rasmussen gab die Sphinx: „Ich denke, dass weder ein Cyberangriff noch irgendein anderer Angriff im Voraus als klarer Fall für den Artikel 5 beschrieben werden kann. Da hängt sehr viel von den konkreten Umständen ab. (...) Ich würde das eine konstruktive Uneindeutigkeit im Blick auf die Anwendung des Artikels 5 nennen. Und exakt das ist die Stärke des Artikels 5, dass ein potenzieller Aggressor nie weiß, wann die Allianz den Bündnisfall ausruft.“ Aus konstruktiver Uneindeutigkeit kann jedoch schnell eine flexible Legitimation für neue Kriege entstehen.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS