Eine europäische Flagge Otfried Nassauer
Großbritannien hat den Ruf, das Land der Euroskeptiker zu sein. Die Briten haben ein wunderbares, (selbst)ironisches Sprichwort: "If you cant win it, put the Union Jack on top." Großbritannien spielt dieser Tage zur kontinental-europäischen Überraschung eine führende Rolle bei der Europäischen Integration. Und das ausgerechnet in einem Politikfeld, das zutiefst den Kern britischer Euroskepsis, die Preisgabe nationaler Souveränität, berührt: Der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union (EU) zu einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GESVP). Mit der GESVP rückt die Fähigkeit zu militärischem Eingreifen, zu Interventionen in die Politikoptionen der bisherigen Zivilmacht Europa ein. Europa soll zu effektivem, militärischem und zivilem Krisenmanagement befähigt werden, eine Handlungsfähigkeit gewinnen, die seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht entspricht. Vor kaum mehr als zwei Jahren begannen die EU-Staaten, eine eigenständige Fähigkeit zum militärischen Krisenmanagement zu diskutieren und zu planen. Auf einem informellen Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 23. und 24. Oktober 1998 in Pörtschach, zehn Tage nachdem der NATO-Rat ohne UNO-Mandat in Sachen Kosovo den Einsatzbefehl für die Streitkräfte der Allianz gebilligt hatte, wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit über die Zukunft der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik diskutiert. Der Gipfel ventiliert, wie nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages, der ein erweitertes Mandat und die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen beinhaltet die europäische Integration in diesem Bereich vorangetrieben werden kann. Er darf als Initialzündung für das Projekt eines gemeinsamen europäischen militärischen Krisenmangements gelten. Der britische Premierminister, Tony Blair, gab kurz darauf vor der Parlamentarischen Versammlung der NATO den öffentlichen Startschuß ab: "Europa braucht eine genuine operative militärische Fähigkeit, nicht zuletzt Streitkräfte, die schnell reagieren und effektiv zusammenarbeiten können und es braucht genuinen politischen Willen", argumentierte Blair. "Diplomatie funktioniert am besten, wenn sie durch eine glaubwürdige Drohung des Einsatzes von Streitkräften Rückendeckung hat". Später wird Blair über das Europa der Zukunft sagen: "a superpower, but not a superstate". Großbritannien und Frankreich erklärten in St. Malo, dass sie beim Aufbau einer europäischen Fähigkeit zum Krisenmanagement die Führung übernehmen wollten. Von nun an geht alles sehr rasch. Das Treffen der EU-Außenminister in Reinhardtshausen im März 1999 steckt zehn Tage vor Beginn des Kosovo-Krieges die Eckpunkte des Vorhabens ab. Beim NATO-Gipfel im April wird ein Kommunique verabschiedet, dass wesentliche Elemente des Vorhabens enthält. Der Kölner Gipfel der EU im Juni beschließt, "die gesamte Palette der im Vertrag über die Europäische Union definierten Aufgaben der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, der sogenannten Petersberg-Aufgaben" in Angriff zu nehmen und die EU "zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten" zu befähigen. Der Europäische Rat legt im Dezember in Helsinki fest, dass bis 2003 Streitkräfte im Umfang von bis zu 60.000 Soldaten binnen 60 Tagen für einen maximal einjährigen Kriseneinsatzbereitstehen sollen. Politische und militärische Entscheidungs- und Führungsstrukturen werden beschlossen, die weitgehend jene der NATO spiegeln. Sie beginnen im März 2000 mit der Arbeit. Strukturen für die Zusammenarbeit mit der NATO und die Mitwirkung der Beitrittskandidaten sowie jener NATO-Staaten, die nicht Mitglieder der EU sind, sich aber bei europäischen militärischen Kriseneinsätzen beteiligen wollen, entstehen im Frühjahr und Sommer Die WEU beschließt im November, ihre Arbeit zum 1.7.2001 weitgehend einzustellen bzw. ihre sicherheitspolitischen und militärischen Instrumente in die EU zu überführen. Die Organisation bleibt wegen der Beistandsverpflichtung im WEU-Vertrag erhalten. Am 20./21. November treffen sich die EU, die Beitrittskandidaten und die an Kooperation interessierten NATO-Staaten in Brüssel, um die nationalen Beiträge für die künftigen europäischen Krisenreakionskräfte zusammenzutragen. Deutlich über 100.000 Soldaten, 400 Kampfflugzeuge und 100 Kriegsschiffe werden allein aus den EU-Staaten offeriert. Das Helsinki-Ziel von 60.000 Soldaten wird klar überschritten. Bis zum Ende der französischen Präsidentschaft sollen die Gespräche mit der NATO über dauerhafte Strukturen der Zusammenarbeit in (Übergangs)Abkommen gegossen werden. Zwei Jahre nach Pörtschach ist die Dynamik der Entwicklung der GESVP ungebrochen. Immer mehr Beobachter halten der Prozeß für unumkehrbar. Der Weg der EU zu eigenständigen militärischen Fähigkeit zwingt zu einer Reihe wichtiger Grundsatzentscheidungen. Die EU war bisher nie im engeren Sinne sicherheitspolitischer, militärischer Akteur. Also müssen viele schwierige Entscheidungen, die national und in sicherheitspolitischen Organisationen wie der NATO nach langer, mühsamer und kontroverser Diskussion gefällt wurden, nun auch für die EU getroffen werden. Unter welchen Voraussetzungen interveniert die EU? Wer muß das Mandat erteilen? Sollen Einsätze nur im Umfeld Europas oder weltweit möglich sein? Wie wird die Zusammenarbeit mit der NATO gestaltet? Bekommt die NATO Einfluß auf EU-Entscheidungen und Operationen? Welche Mitspracherechte bekommen Staaten, die nicht Mitglieder der EU sind, sich aber an deren Einsätzen beteiligen wollen? Wie wird die Zusammenarbeit mit Rußland gestaltet? Wo liegt die Grenze zwischen gemeinsamem Krisenmanagement und militärischen Interventionen zum Schutz von Interessen der EU-Staaten? Hinter vielen dieser Grundsatzentscheidungen zeigt sich eine Grundfrage: Welche geopolitische Rolle spielt Europa künftig in der Welt? Als größter Binnenmarkt, stärkster wirtschaftlicher Akteur, wichtigster entwicklungspolitischer Geldgeber, diplomatisches und künftig auch als währungspolitisches Schwergewicht agiert die EU schon heute global und in einem Umfeld, in dem lediglich die USA gleichgewichtig oder stärker als Partner und Konkurrent auftreten können. Deren singulärer, letztlich größerer Einfluß beruht auf drei Faktoren: Dem Dollar als weltweit wichtigster Währung, den überlegenen, militärischen Fähigkeiten und der Tatsache, daß die USA als einheitlicher Akteur auftreten. In der Zukunft wird das überlegene Gewicht der USA möglicherweise nurmehr auf dem zweiten Faktor basieren. Der Euro wird die Dollardominanz auf längere Sicht infragestellen. Europa lernt, als einheitlicher Akteur aufzutreten. Der Aufbau einer europäischen, militärischen Krisenmanagementfähigkeit hat begonnen, wird aber mit den USA auch längerfristig nicht konkurrieren können. Aus diesen Entwicklungen ergeben sich die Rahmenbedingungen für die künftige Rolle der EU. Zugleich entsteht die Frage, ob die EU ihre Rolle als globaler Machtfaktor ähnlich wie die USA spielen will oder eigene Formen und Mittel entwickelt. 1. Ziviles und militärisches Krisenmanagement Chris Patten, EU Kommissar für Außenbeziehungen, ist bekannt als Mann klarer Worte. "Es geht darum, seltener Feuerwehr zu spielen und sich mehr darum zu kümmern, warum es immer wieder brennt." "Wir müssen", so Patten weiter, "Wege finden, unseren immensen wirtschaftlichen Einfluß strategisch einzusetzen, wenn es darum geht, das Entstehen neuer Brände zu verhindern und zuallererst die Ursachen dafür anzugehen, dass sie immer wieder entstehen. Europa braucht nicht nur die Fähigkeit zum (militärischen) Krisenmanagement, sondern vor allem eine Politik der Vorbeugung gegen das Entstehen militärischer Konflikte." Die Ausgestaltung europäischer Fähigkeiten zur Krisenbewältigung verläuft einseitig zugunsten der militärischen Fähigkeiten. Obwohl die Gipfel in Köln und Helsinki explizit die Notwendigkeit einer Stärkung und Weiterentwicklung der europäischen Fähigkeiten zur Krisenfrühwarnung, Krisenprävention und zu nicht-militärischem Krisenmanagement hervorheben, folgten den Worten nur wenige Taten. Die Ausgestaltung der zivilen Fähigkeiten hinkt deutlich hinter den Entwicklungen im militärischen Sektor hinterher - sowohl zeitlich als auch im Blick auf die verfügbaren Ressourcen. Schon in der Vorbereitung des Helsinki-Gipfels wurde das Missverhältnis augenfällig. Die finnische Präsidentschaft achtete peinlich genau darauf, die Kölner Beschlüsse über die Stärkung des zivilen und des militärischen Krisenmanagements gleichberechtigt umzusetzen und entsprechende Vorlagen für den Gipfel in Helsinki vorzubereiten. Doch während die Finnen sich ernsthaft mühten, einen Aktionsplan zur Stärkung des zivilen Krisenmanagements auszuarbeiten, setzten Briten, Deutsche, Franzosen und Italiener ein wahres Feuerwerk von Vorschlägen in Gang, um möglichst schnell eine militärische Handlungsfähigkeit der EU herzustellen. Die finnischen Ideen für den zivilen Bereich wurden verwässert, weniger verbindlich gestaltet oder auf die portugiesische Präsidentschaft vertagt, im militärischen Bereich wurden Fakten geschaffen. Erst im Frühjahr und Sommer 2000 entstehen auch für das zivile Krisenmanagement Entscheidungsstrukturen, ein kleiner Finanzfond und die Zielsetzung, Die Frage ist grundsätzlicher Natur: Welche Ausrichtung gibt die EU ihrer Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik? Orientiert sie sich an den Mustern klassischer nationalstaatlicher Machtpolitik und entwickelt eine an der Durchsetzung der Interessen der EU-Mitglieder bzw. an noch zu definierenden Europäischen Interessen orientierte, militärisch abgestützte Politik? Die bisherigen Schritte der EU sind ianusköpfig. Sie lassen es zu, dass die EU in Kooperation oder Konkurrenz zur NATO eine ähnliche Politik realisiert wie diese. Offen steht der EU aber auch ein anderer Weg. Sie kann die Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik nutzen, um eine kluge Balance nicht-militärischer und militärischer Mittel des Krisenmanagements zu suchen. Als größter Binnenmarkt, als diplomatisches Schwergewicht und als wichtigster Geber von Entwicklungshilfe besitzt die EU schon heute wesentliche Instrumente der Konfliktfrühwarnung, der Prävention militärischer Konflikte und des nicht-militärischen Konfliktmanagements. Würden diese zielgerichtet ausgebaut, auf effektive Anwendungsmöglichkeiten untersucht und mit militärischen Mitteln nur soweit abgestützt, dass sie nicht des militärischen Schutzes durch die USA oder die NATO bedürfen, so könnte Europa weitgehend andere Formen des Umgangs mit werdenden oder schwelenden Krisen entwickeln als heute üblich. Ihr Kennzeichen wäre es, präventiv und frühzeitig zu handeln, dem Ausbruch militärischer Konflikte zuvorzukommen und damit Situationen, in denen militärisches Handeln nötig wäre, zu verhindern. Ausdruck einer solchen Politik wäre es auch, dass die EU ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten in den Dienst von UNO und OSZE stellt, z.B. indem sie signifikante personelle und finanzielle Fähigkeiten vorhält, mit denen sie sich an Maßnahmen des Krisenmanagements im Rahmen oder Auftrag von UNO oder OSZE beteiligen kann. Die dritte Alternative, die Beibehaltung, Stärkung und systematische Entwicklung der EU als Akteur des ausschließlich zivilen Krisenmanagements, wird zunehmend zu einer theoretischen Option. Wo die EU und ihre Mitglieder den Schwerpunkt der künftigen Entwicklung setzen, läßt sich nicht zuletzt daran erkennen, wie sie ihre finanziellen Ressourcen einsetzen. 2. Die EU und die Internationale Gemeinschaft Der Aufbau militärischer Fähigkeiten zwingt die EU, sich mit der Frage zu befassen, ob sie Militär nur einsetzen will, wenn ein Mandat der UNO bzw. der OSZE vorliegt oder ob ähnlich wie bei der NATO ein Beschluß der EU, also eine Selbstmandatierung, ausreichen soll. Die Antwort hat große Auswirkungen auf die künftige Rolle der Union, ihre Außenwahrnehmung und auf UNO und OSZE. Verpflichtet sich die EU, militärische Mittel nur einzusetzen, wenn ein Mandat der UNO oder der OSZE vorliegt, so trägt sie wesentlich zur Stärkung der Rolle und der Autorität dieser internationalen Organisationen bei. Ganz anders die Wirkung, wenn die EU sich die Möglichkeit zur Selbstmandatierung offenhält. Die Entscheidung der NATO, den Kosovo-Krieg ohne UNO-Mandat zu beginnen, international gültiges Recht zu durchbrechen, machte die Gefahren deutlich. Hält sich auch die EU die Option einer Selbstmandatierung offen oder wendet sie dieses Verfahren gar an, so würden die Rolle der UNO und die Autorität internationalen Rechts deutlich geschwächt. Bislang hält sich die EU in dieser Frage bedeckt. In der Gipfelerklärung von Helsinki hat sie ausgeführt, EU-Einsätze stünden "im Einklang mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen" und die EU erkenne "die vorrangige Verantwortung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit" an. Das ist keine explizite Bindung an ein UNO-Mandat. Es eröffnet ein Einfallstor für Argumente, auch die EU solle - wie die NATO - einen Militäreinsatz ohne UNO-Mandat nicht kategorisch ausschließen. Letztlich ist damit zu rechnen, daß ad-hoc und unter dem Druck einer akuten Krise entschieden wird. 3. Das Verhältnis zur NATO Zu den wichtigsten Richtungsentscheidungen für die EU gehört deren künftiges Verhältnis zu den USA und zur NATO. Wird dieses Verhältnis zunehmend von Elementen konkurrierenden Verhaltens geprägt oder werden sich die Fähigkeiten beider Institutionen sinnvoll ergänzen, weil beide je spezifische, ergänzende Aufgaben übernehmen? Die EU-Staaten streben in ihren Gipfelbeschlüssen von Köln und Helsinki an, die EU mit der Fähigkeit zur
auszustatten. Im Blick auf die Durchführung solcher Maßnahmen unterscheiden sie zwei Optionen, nämlich Einsätze, die die EU-Staaten mit eigenen Mitteln bestreiten können und Einsätze, für die auf militärische Ressourcen der NATO zurückgegriffen werden muss. Zugleich machen die Beschlüsse deutlich, dass die EU militärische Maßnahmen nur ergreifen will, wenn die NATO als Ganzes, also vor allem wenn die USA sich nicht an der Durchführung beteiligen wollen. Eine Europäische Armee, eine Konkurrenz zur NATO, vor allem im Bereich kollektiver Verteidigung, sei nicht geplant. Der NATO werden intensive Konsultationen angeboten, für die inzwischen eine Vielzahl gemeinsamer Arbeitsgruppen eingerichtet wurden, in denen Teilaspekte der Zusammenarbeit kleingearbeitet werden. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen und der Aussicht, dass Europa langjährigen Forderungen der USA entgegenkommt und die eigene Fähigkeit zu militärischem Eingreifen stärkt, ließen harsche Kritik, zweifelnde Fragen und politische Ermahnungen aus Washington nicht lange auf sich warten. Sie werden am besten in einem Gedanken der amerikanischen Außenministerin Albright zusammengfaßt. Sie forderte, dass Europa "no duplication", also keine Duplikation der militärischen Fähigkeiten der NATO plane, "no decoupling", also keine Schwächung der NATO und ihrer Rolle zulasse und "no discrimination", also keine Diskrimminierung jener NATO-Mitglieder, die nicht EU-Mitglieder sind, betreibe, sondern diesen das Recht auf gleichberechtigte Mitarbeit ermögliche. Aus Sicht Washingtons ist den Interessen der USA mit der gegenwärtigen Verteilung von Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten in Europa bestens gedient. Im Kern gilt eine Politik des "NATO first": Keine wichtige Entscheidung kann ohne explizite Zustimmung der USA gefällt werden. Die NATO hat die gesicherte rechtliche Möglichkeit, auf die militärischen Mittel der europäischen Staaten zurückzugreifen; umgekehrt gilt dies für die WEU nur partiell und solange wie die NATO keinen Eigenbedarf anmeldet. Washington wünscht Zugriffsrechte auch für die neu entstehenden, europäischen militärischen Fähigkeiten. Den europäischen Staaten größere Unabhängigkeit und Autonomie zuzugestehen, liegt nicht im Interesse der USA. Der Vorrang der NATO und damit die Möglichkeit der USA, europäisches Handeln entscheidend zu beeinflussen, soll erhalten bleiben. Die EU-Staaten hingegen wollen erreichen, dass sie militärisch eigenständig handlungsfähig werden und dies auch dann bleiben, wenn Washington aus innenpolitischen Gründen oder aus Gründen einer anderen nationalen Prioritätensetzung oder Interessenslage militärisches Handeln ablehnt. Dazu benötigen sie eigene Entscheidungsstrukturen und militärische Mittel, in deren Nutzung kein Dritter entscheidend hineinreden kann. Dazu müssen zwangsläufig einige Strukturen der NATO dupliziert werden. Konfliktpotential mit den USA bzw. der NATO besteht vor allem in Hinblick auf größere militärische Einsätze, die in etwa dem Szenario im Kosovo entsprechen oder im Blick auf Einsätze, bei denen die EU und die USA von unterschiedlichen politischen Interessen bzw. Zielsetzungen geleitet werden. Ausgetragen werden die Differenzen im Wesentlichen auf der rechtlichen und technischen Ebene im Nahkampf der Konsultationen zwischen EU und NATO. Hier muß entschieden werden, auf welche Informationen, Aufklärungsergebnisse und Planungskapazitäten der NATO die EU zugreifen kann und unter welchen Bedingungen sie militärische Mittel der Allianz nutzen kann. Hier wird auch entschieden, welche Zugriffsrechte die NATO auf die neuen militärischen Fähigkeiten Europas bekommt. Politisch lautet die Gretchenfrage: Gelingt es der EU in ihren Verhandlungen mit der NATO angesichts der Interessenslage der USA, Vereinbarungen zu treffen, die wirklich autonome Entscheidungen und Militäraktionen ermöglichen. Diese Diskussionen haben eine Nebenwirkung. Die Debatte konzentriert sich auf militärische und rüstungstechnologische Fähigkeiten, die für große, an der Grenze zur offenen Kriegführung liegende Kriseneinsätze notwendig sind. Damit wird die vorhandene Tendenz zu einer Überbetonung der Entwicklung des militärischen Krisenmanagements in der EU weiter verstärkt. Eine Debatte darüber unterbleibt, ob Europa überhaupt ähnliche Fähigkeiten wie von den USA im Kosovo-Krieg demonstriert, benötigt. Dies trägt dazu bei, den Blick für die potenzielle Stärke einer europäischen Politik der Krisenbearbeitung zu verstellen, die ausgehend von den Stärken der EU im nicht-militärischen Bereich auf den Prinzipien der Gewaltprävention und der Gewaltminimierung beruht, also vor allem darauf bedacht ist, den Einsatz militärischer Drohungen und militärischer Gewalt zu begrenzen. 4. Die EU, die Finalität und die kollektive Verteidigung Wird die EU und wenn ja, wann eine gemeinsame militärische Verteidigung anstreben? Diese politisch heikle Frage verbirgt sich hinter der in Amsterdam ins Auge gefassten stufenweisen Überführung der GASP zunächst in eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und später in eine Gemeinsame Verteidigung. Wie delikat dieser Punkt ist, wird nicht nur an der Frage deutlich, ob eine EU mit gemeinsamer Verteidigung das Erbe Großbritanniens und Frankreichs als Nuklearmächte antreten würde, sondern viel früher. Dann nämlich, wenn über das Ziel des Europäischen Integrationsprozesses gesprochen wird. Hieraus erklären sich die Reaktionen, die der bundesdeutsche Außenminister Joschka Fischer auslöste, als er seine Rede zur Finalität des Europäischen Integrationsprozesses an der Berliner Humboldt-Universität hielt. Perspektivisch zielt der Europäische Einigungsprozess auf die Vergemeinschaftung aller Politikbereiche, also auch der Verteidigung. Eine gemeinsame Europäische Armee, eine gemeinsame Verteidigung werden gemeinhin als fehlende Schlußsteine des Prozesses bezeichnet. Die Beschlüsse von Köln und Helsinki limitieren jedoch das gemeinsame militärische Handeln der EU für die nähere Zukunft in zweierlei Weise. Zum einen wird die GESVP als inter-gouvernementales Handeln ausgestaltet. Damit soll die Pandoras Büchse namens Souveränitätsübertragung verschlossen gehalten werden. Deshalb ist das militärische Krisenmanagement der EU beim Europäischen Rat, nicht aber bei der Europäischen Kommission angesiedelt. Zum anderen wird das künftige militärische Handeln der EU auf die Erfüllung der Petersberg-Aufgaben beschränkt. Dies wurden 1997 in den Amsterdamer Vertrag aufgenommen, nachdem deutlich geworden war, dass der WEU aufgrund ihrer vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der NATO ein von der NATO unabhängiges Handeln kaum möglich sein würde. Die Selbstbeschränkung der EU auf das Krisenmanagement hat drei Ursachen: Erstens eröffnet der Amsterdamer Vertrag keine weitergehende Zuständigkeit. Zweitens hat die EU vier neutrale Mitgliedstaaten, für die die Mitgliedschaft in einem Verteidigungsbündnis große politische und teilweise sogar verfassungsrechtliche Probleme hervorrufen würde. Und schließlich tritt die EU so nicht in eine direkte Konkurrenz zur NATO, deren Hauptaufgabe die kollektive Verteidigung ist. Die EU trägt also ihren gegenwärtigen Möglichkeiten Rechnung, geht das zur Zeit Erreichbare an und schließt spätere, weitergehende Schritte nicht aus. In dieser Logik liegt es, dass die WEU, deren Vertrag eine rechtlich verbindlichere militärische Beistandsklausel enthält als der NATO-Vertrag, als Organisation erhalten bleibt. Dies erspart der EU die Diskussion über eine Integration der Verpflichtung in den EU-Vertrag - im Blick auf die bevorstehende Osterweiterung der Union ein gewichtiger Aspekt. 5. Die EU und Russland Eine weitere politische Weichenstellung für die Ausgestaltung der GESVP betrifft die Beziehungen der EU zu Russland. Europäische Sicherheit ohne Russland gestalten zu wollen, ist unrealistisch und deshalb nicht erfolgversprechend. Nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages nutzte die EU das neue außenpolitische Instrument der Verabschiedung einer Gemeinsamen Strategie gegenüber Russland. Das Dokument wurde auf dem Kölner Gipfel gebilligt und signalisierte Russland die Bedeutung, die die EU den bilateralen Beziehungen beimisst. Von sicherheitspolitischer Relevanz ist, dass das Dokument Moskau die Entwicklung gemeinsamer Politiken zur Bewältigung von Krisen gerade auch im Blick auf die Krisengebiete an der Südgrenze Russlands - offeriert. Der Kosovo-Krieg spielte auch in den EU-Russland-Beziehungen eine wichtige Rolle. Russland sah sich aus innen- wie außenpolitischen Gründen nach Beginn des Krieges veranlaßt, seine Beziehungen zur NATO zu unterbrechen. Mit dem Verzicht auf ein UNO-Mandat hatte die Allianz sich über ein vitales Interesse Russlands hinweggesetzt. Mit der Idee, ein Ende des Krieges durch eine gemeinsame Vermittlung von EU und Russland herbeizuführen und mit der G-8-Ebene ein Forum zur politischen Beendigung des Konfliktes zu wählen, in dem Russland unter Gesichtswahrung mitarbeiten konnte, kamen entscheidende Impulse für einen kooperativen Ansatz zur Beendigung des Krieges aus der EU. In Moskau führte der Kosovo-Krieg zu einer Diversifizierung im Denken über die Beziehungen mit dem Westen. Seit dem Kosovo-Krieg wird realisiert, dass aus dem Kreml zwei Tore nach Westen führen. Bei verschlossener Tür zur NATO und zu den USA existieren weiterhin Kooperationsmöglichkeiten mit den Nachbarn aus der EU. Für die weitere Entwicklung dürfte es entscheidend sein, ob die EU und Russland ihre potenziell strategischen Kooperationsmöglichkeiten realistisch einschätzen und nicht durch überzogene Erwartungen überfrachten. Die Entwicklung und Ausgestaltung einer strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland wird Zeit, Geduld und Interesse an der Entwicklung gegenseitiger strategischer Abhängigkeiten und gemeinsamer Interessen brauchen. Dafür sind die in den letzten Monaten zwischen einzelnen EU-Staaten und Russland, aber auch der EU und Russland projektierten wirtschaftlichen Kooperationen zur Sanierung der russischen Pipelinesysteme, die zugleich zu einer langfristig gesicherten Energieversorgung in Westeuropa beitragen sollen, ein gutes Beispiel. Ähnliche vielversprechende Beispiele im Bereich der Sicherheitspolitik lassen dagegen noch auf sich warten. In Nizza will die EU lediglich Optionen für eine Zusammenarbeit beim Krisenmanagement mit Rußland diskutieren. In Zukunft erfordert die Osterweiterung der EU verstärkte Aufmerksamkeit. Mit der Osterweiterung kommen Union und Russische Föderation einander geographisch noch näher. Russland sah in der Osterweiterung der EU im Gegensatz zu jener der NATO bislang keine Bedrohung und widersetzte sich deshalb diesen Plänen nicht. Eine wesentliche Gestaltungsaufgabe für die Beziehungen der EU zu Russland wird es sein, dafür zu sorgen, dass dies auch angesichts der sicherheitspolitischen Integration der EU so bleibt. 6. Zwischen Transparenz und Küchenkabinett Schließlich werden die Europäischen Institutionen entscheiden müssen, wie sie ihre Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik der parlamentarischen Kontrolle öffnen und öffentlich vermitteln bzw. rechtfertigen wollen - die Aspekte der Transparenz und der "democratic accountability". Wie und in welchem Umfang dies geschieht, ist von größter Tragweite für die öffentliche Akzeptanz Europas und für die innenpolitische Durchhaltbarkeit militärischen Krisenmanagements. Entscheidungen über die sicherheitspolitischen und militärischen Aspekte der GESVP werden ausschließlich auf intergouvernementalem Wege getroffen. Die nationalen Parlamente sind zur Zeit der einzige Ort, an dem über das Verhalten der jeweils nationalen Regierungen eine beschränkte Kontrolle ausgeübt werden kann. Eine parlamentarische Kontrollinstanz, die die Sicherheitspolitik der EU überprüfen und kontrollieren könnte, gibt es nicht. Deutlich wird die Problematik an den Bemühungen des Europäischen Rates, den Geheimhaltungsanforderungen, die sich aus einem Informationsaustausch und der Zusammenarbeit mit der NATO ergeben, gerecht zu werden. Erst vor wenigen Jahren hatte die EU beschlossen, öffentlichen Zugang zu EU-Dokumenten grundsätzlich zu ermöglichen. Im Sommer dieses Jahres aber beschloß der Rat für Allgemeine Angelegenheiten mit Mehrheit, den Zugang wieder erheblich einzuschränken, ja ganze Vorgänge für nicht-öffentlich zu erklären, wenn einzelne Dokumente geheimschutzbedürftige Informationen beinhalten sollten. Geheimhaltung soll für Vorgänge aus dem militärischen wie dem nicht-militärischen Krisenmanagement gelten. Nicht einmal im Register der Ratsdokumente sollen entsprechende Dokumente künftig Erwähnung finden. Holland, Finnland, Schweden und das Europäische Parlament rufen den Europäischen Gerichtshof an, da der Amsterdamer Vertrag explizit auch hinsichtlich der GASP, zu der die GESVP gehört, die Verpflichtung zur Öffentlichkeit enthält. Im Europäischen Parlament fragen sich die Abgeordnete, wie sie unter diesen Bedingungen noch eine Haushaltskontrolle ausüben können. Kommission, Rat und Regierungen versuchen seit Wochen, die Wogen zu glätten: Doch alle Kompromißangebote signalieren nur eins: Das alte Maß an Transparenz soll keinesfalls wiederhergestellt werden, die Bürokratie will sich die Möglichkeit, Entscheidungsprozesse unter Verschluß zu nehmen, erhalten. Der Kampf ums Prinzip geht also weiter: Hier das Interesse von Regierungen und Administrationen, Entscheidungen und deren Begründung in kleinen, kabinettsartigen, schlecht kontrollierbaren Gremien zu fällen, an denen auch Bismarck Gefallen gefunden hätten; dort Parlamente und Öffentlichkeit, die ein legitimes Interesse an Kontrollierbarkeit, Nachvollziehbarkeit und öffentlicher Zugänglichkeit haben. 7. Schlußbemerkungen Die Entwicklung einer vergemeinschafteten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat unwiderruflich - begonnen. Anders, als bei früheren Bemühungen, zu einer gemeinsamen Politik in diesem Bereich zu kommen, ist nicht damit zu rechnen, dass der Prozeß angesichts der Mühen der Ebene schnell ins Stocken gerät. Der politische Willen und die Entschiedenheit, mit der das Projekt seit nunmehr zwei Jahren vorangetrieben wird, sind ungleich größer als in der Vergangenheit. Damit steht zugleich fest, dass früher oder später die geschilderten Richtungsentscheidungen getroffen werden müssen. Mit ihnen wird Europa seine Rolle in der Welt neu definieren. Damit wird sich so oder so das Gesicht und die Wahrnehmung der EU verändern. Die Zeiten der klassischen "Zivilmacht" Europa sind vorüber. Dies bedeutet nicht, dass Europa zwangsläufig zur "Militärmacht" wird, aber doch, dass bereits eine gefährliche Tendenz dazu erkennbar wird. Eine abschliessende Bewertung der GESVP ist noch nicht möglich. Sie birgt Chancen, aber auch erhebliche politische Risiken. Und sie macht deutlich, wie dringend eine breite, gesellschaftliche Diskussion über die sicherheitspolitische Integration in Europa, die europäischen Interessen und die Formen ihrer Wahrnehmung ist. Ein Urteil aber steht bereits fest: Über dem Vorhaben GESVP flattert (auch) der Union Jack. Der Beitrag wurde von der Redaktion gekürzt.
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