IPPNW Forum
Nr. 85/Februar 2004

Die Atomkrieger des 21. Jahrhunderts

von Otfried Nassauer


Die USA arbeiten an neuen atomaren Waffen, haben eine neue Nuklearstrategie und pfeifen auf die nukleare Rüstungskontrolle. Ein guter Grund, sich die Nuklearwaffenpolitik der Regierung Bush einmal genauer anzuschauen.

 

1. Neue Atomwaffen

So mancher Abgeordnete im amerikanischen Kongress rieb sich im März 2003 verwundert die Augen, als er den Entwurf für das neue Verteidigungshaushaltsgesetz auf den Tisch bekam. Darin fand sich nicht nur - wie erwartet - ein Etatansatz für die Entwicklung einer neuen Atomwaffe zum Zerstören tief unter der Erde verbunkerter Ziele. Es gab auch einen unscheinbaren Passus, in dem die Aufhebung des Spratt-Furse Amendements aus dem Verteidigungshaushaltsgesetz für das Jahr 1994 vorgeschlagen wurde.

Dieses Amendment, ein rechtlich bindender Gesetzeszusatz, verbot konkrete Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an Nuklearwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als 5 Kilotonnen. Er stellte eine Hürde gegen die Entwicklung und Einführung von Mini-Atomwaffen und Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft dar, auch wenn Grundlagenforschung und Konzeptstudien nicht verboten waren. Er war das einzig existente rechtlich bindende Verbot im Bereich der Atomwaffenentwicklung in den USA. Würde er aufgehoben, so war schnell klar, wäre der Entwicklung neuer US-Atomwaffen Tor und Tür geöffnet.

Genau das ist inzwischen eingetreten. Das Haushaltsgesetz, das der Kongreß Ende 2003 verabschiedete, ermöglicht nicht nur den Einstieg in die Arbeit an einer neuen bunkerzerstörenden Atomwaffe, sondern auch den Einstieg in die Arbeit an Mini-Atomwaffen.

Seit Jahren hatte ein kleiner Kreis konservativer Republikaner und Nuklearwaffenlobbyisten beklagt, Washington betreibe nukleare Selbstbeschränkung, habe keine geeigneten Nuklearwaffen, um den militärischen Anforderungen der Zukunft gerecht und mit den Gegnern der Zukunft fertig zu werden. Die Nuklearwaffeninfrastruktur - von den Atomwaffenlaboren über die Fertigungsstätten bis hin zu den Testanlagen - veralte und vergammele. Der wissenschaftliche Nachwuchs werde vernachlässigt. All das gelte es schnellstens zu ändern.

Nach dem Machtantritt von George W. Bush begann diese Lobby, ihre gegen Ende des Kalten Krieges entwickelten Konzepte und Ideen wieder auszupacken und in die Tat umzusetzen. Der Einsatz von Nuklearwaffen, so die Vorstellung dieser Apologeten, muss glaubwürdig angedroht werden können, damit mit der Drohung eine echte Abschreckungs- und Erpressungswirkung verbunden ist. Die Waffen müssen glaubwürdig in der Lage sein, die vorgesehenen gegnerische Ziele auch zerstören zu können. Die Ziele und Gegner aber haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich gewandelt, und für jene Ziele, um die es jetzt gehe, seien bislang nicht die richtigen Waffen vorhanden.

Angeregt wurde deshalb die Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Nuklearwaffen. Da sind zum einen die atomaren Bunkerknacker. Heutige konventionelle Bunkerknacker können bis zu sieben Meter Stahlbeton durchdringen, künftige sollen leistungsfähiger sein. Neun, zehn oder mehr Meter werden für möglich gehalten. Die einzige Nuklearwaffe im US-Arsenal, die Bunkerknacker-Qualitäten besitzt, ist die mit einem besonders harten äußeren Mantel umgebene Atombombe B-61-Modell 11, ein relativ großer Nuklearsprengsatz. Tests ergaben, dass diese Waffen ihre Grenzen hat: Sie funktioniert bei allen Böden. Sie muss in einem bestimmten Winkel auftreffen, dringt nur begrenzt tief ein und es ist - wegen der hohen Sprengkraft - mit sehr viel radioaktivem Fallout zu rechnen. Begonnen werden soll deshalb mit der Entwicklung eines "Robust Nuclear Earth Penetrators", RNEP, einer Atomwaffe, deren Mantel aus abgereichertem Uran (Depleted Uranium) bestehen und die mit zusätzlichen Eindringhilfen ausgestattet sein könnte, um deutlich tiefer in den Untergrund vordringen.

Doch selbst wenn die Waffe deutlich mehr Bunkeranlagen ausschalten könnte als bisherige Waffen - halten, was die Lobbyisten versprechen, wird auch diese Waffe nicht: Es wird Bunker geben, die sie nicht zerstören kann. Eine Atomexplosion fast ohne Fallout wird es nicht geben. Mit dieser Waffe kann weder die Zerstörung besonders gut verbunkerter Ziele noch die von Zielen glaubwürdig angedroht werden, bei denen es darauf ankäme, den fallout-bedingten Kollateralschaden gering zu halten - z. B. weil sie in dicht besiedelten Gebieten liegen. Zudem haben Physiker wiederholt darauf hingewiesen, dass der Entwicklung solcher Waffen quasi-naturgesetzliche Grenzen gesetzt seien, die sich daraus ergeben, dass der Zünd- und Funktionsmechanismus der Waffe beim Eindringen ja nicht beschädigt werden darf.

Das Problem schwer vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigender Kollateralschäden soll mit einer anderen Neuentwicklung angegangen werden - der Entwicklung kleiner und kleinster Atomsprengköpfe. Diese Mini-Nukes könnten, wenn sie so zielgenau gemacht werden wie moderne konventionelle Waffen, sogar als Bunkerknacker gegen nicht ganz so gut geschützte Ziele z.B. auch in besiedelten Gebieten genutzt werden. Auch hier haben Kritiker entgegnet, dass Zweck und Mittel nicht zueinander passen.

Eine Waffe, die kaum noch radioaktiven Fallout produziert, könne nicht tief genug in die Erde eindringen, um die angepeilten Ziele sicher zu zerstören. Denn je tiefer ein Ziel unter der Erde liegt, desto größer müsse der atomare Sprengsatz sein, der es wirklich zerstören würde und desto wahrscheinlicher werde, dass viel radioaktiver Fallout entsteht und freigesetzt wird. Es sei wahrscheinlich, dass die Einführung solcher Waffen zu der Illusion führe, man sei im Besitz einer "sauberen" Atomwaffe, die man besser einsetzen könne. Da die Grenzen zwischen der Wirkung der größten konventionellen Waffen und der kleinsten nuklearen verschwimme, werde ein Atomwaffeneinsatz wahrscheinlicher.

Die Mini-Nukes – so argumentieren Mitarbeiter des Atomwaffenlaboratoriums in Los Alamos - könnten aber auch als zielgenaue Waffen mit erhöhter Strahlung konzipiert werden, als Enhanced Radiation Weapons, etwa so wie die Sprengköpfe der inzwischen abgerüsteten Lance-Rakete oder die Artilleriegranaten W79 in den achtziger Jahren. Bei diesem Vorschlag feiert die politische Diskussion über die Entwicklung der Neutronenbombe fröhlichen Urstand.

Als dritter Grund für den Bau neuer Atomwaffen wird die Notwendigkeit der gesicherten Zerstörung chemischer und biologischer Kampfstoffe genannt. Um diese mit hundertprozentiger Sicherheit rückstandslos verbrennen zu können, sei eine Nuklearexplosion mit ihren extrem hohen Temperaturen der sicherste Weg. Auch das - so haben Kritiker nachgewiesen - stimmt so nicht: Zum einen sind auch wirksame konventionelle Waffen zur Zerstörung denkbar bzw. schon vorhanden. Zum anderen könne die enorme Gewalt einer Nuklearexplosion sogar dazu führen, dass Kampfstoffe unabsichtlich freigesetzt werden.

Weitere gute Gründe, endlich eine neue Generation atomarer Waffen durchsetzen zu können, werden noch gesucht. So lässt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld durch das Defense Science Board, ein wissenschaftliches Beratungsgremium des Pentagons, untersuchen, ob Atomsprengköpfe ein probates Mittel zur Raketenabwehr sein könnten. 

 

2. Eine neue Strategie

Mit dem gleichen Elan, mit dem die Regierung Bush den Einstieg in eine neue Generation nuklearer Waffen betreibt, begann sie kurz nach dem Amtsantritt auf Veränderungen in der Nuklearstrategie hinzuarbeiten. Mit Keith B. Paine, Robert G. Joseph und anderen wurden führende Vertreter der konservativen Nuklearwaffen-Lobby, die seit Jahren an einem Konzept für ein "Zweites nukleares Zeitalter" der Abschreckung" gearbeitet hatten, auf wichtige Posten in der Administration berufen. Mit dem "Nuclear Posture Review", einer geheimen Überprüfung der Nuklearstrategie und des Nuklearwaffenpotenzials der USA, der im Januar 2002 an den Kongress übergeben wurde, läuteten sie gravierende Veränderungen ein, die in der Folgezeit implementiert wurden.

Die Nuklearwaffen Washingtons unterstehen künftig nicht mehr einem gesonderten Nuklearwaffen-Oberkommando, sondern einem neuen, veränderten "Strategischen Kommando", das für alle, auch die konventionellen, strategischen Angriffsoptionen der US-Streitkräfte zuständig ist. Die Planer dieses Oberkommandos sollen der Politik sowohl konventionelle als auch nukleare oder gemischte Optionen zum Erreichen spezifischer Ziele präsentieren.

Dies geschah in der Vergangenheit immer durch konkurrierende Teile der US-Kommandostruktur. Während die Verfechter dieser Idee argumentieren, so werde die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes reduziert, dürfte das Gegenteil eintreten. Weil auch mit konventionellen Operationen betraut, könnte sich eine Tendenz einschleichen, Nuklearwaffen als "quasi-normale" Mittel der Kriegführung zu betrachten, deren Einsatz effizienzorientiert zu planen ist. So wie das zu Beginn der achtziger Jahre bereits einmal für das europäische Gefechtsfeld seitens des US-Heeres geplant wurde, mit der AirLandBattle-Doktrin und dem integrierten Gefechtsfeld. Die wachsenden Fähigkeiten konventioneller Waffen und die Aussicht auf reduzierte Kollateralschäden beim Einsatz neuer, kleiner Atomwaffen könnte über die Jahre dazu beitragen, dass der atomare Krieg wieder führbar erscheint.

Dem dürfte es Vorschub leisten, dass die Gegner in einem solchen Krieg kaum nukleare Großmächte mit einem substanziellen Vergeltungspotenzial sein werden, sondern eher Terroristen, so genannte Schurkenstaaten und andere Akteure mit begrenzten Möglichkeiten, den USA Schaden androhen zu können. Die Selbstabschreckung vor dem Einsatz eigener Atomwaffen könnte kleiner ausfallen. Und mancher könnte hoffen, daß ein Atomwaffeneinsatz gegen solche Gegner auch leichter zu rechtfertigen sei.

Dafür sprechen auch andere Änderungen der Nuklearstrategie Washingtons. Mit der National Security Presidential Directive (NSDP) 17 erklärte die Bush-Administration am 14. 9. 2002 ganz offen: "Die Vereinigten Staaten werden weiterhin klar machen, dass sie sich das Recht vorbehalten, auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die USA, unsere Streitkräfte im Ausland und unsere Freunde und Verbündeten mit überwältigender Macht zu Antworten - einschließlich möglicherweise mit dem Einsatz von Nuklearwaffen."

Das bedeutet eine Veränderung: Zwar hat Washington den Einsatz nuklearer Waffen zur Vergeltung in der Vergangenheit nie explizit ausgeschlossen. Wohl aber war es - wie auch alle anderen klassischen Atommächte - politisch verbindliche "Negative Sicherheitsgarantien" gegenüber den nicht-nuklearen Mitgliedern des Atomwaffensperrvertrages (NPT) eingegangen und hatte deren Gültigkeit - zuletzt 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz für diesen Vertrag - erneut bestätigt. Diese besagen, dass Washington auf den Einsatz von Nuklearwaffen verzichten wird, wenn kein Angriff einer anderen Nuklearmacht oder von mit einer Nuklearmacht verbündeten Staaten auf die USA, deren Streitkräfte und deren Verbündete vorliegt.

Der Unterschied wird offensichtlich: Galt die potenzielle nukleare Drohung Washingtons im Rahmen der Negativen Sicherheitsgarantien bislang nuklear bewaffneten Staaten und deren Verbündeten, so gilt sie nun den Besitzern aller Arten von Massenvernichtungswaffen, also auch jenen, die "nur" über biologische und chemische Kampfstoffe bzw. über geeignete Trägermittel verfügen.

Doch damit nicht genug: In einer neuen "Nationalen Sicherheitsstrategie" und in der "Nationalen Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen" aus dem Dezember 2002 macht die Bush-Administration deutlich, dass sie zu präemptiven und präventiven militärischen Schlägen gegen Gefahren bereit ist, die von Massenvernichtungswaffen ausgehen. Mit einem konventionellen oder nuklearen Angriff der USA wird nicht länger nur als Vergeltungsmaßnahme gegen einen gegnerischen Angriff gedroht, sondern auch zur Verhinderung eines Angriffs, der bevorstehen könnte und sogar -präventiv - für den Fall, dass von einem Gegner angenommen wird, dass er sich in Zukunft die Fähigkeit schaffen könnte, mit Massenvernichtungswaffen anzugreifen. Christopher Paine, Nuklearwaffenexperte am Natural Ressources Defense Council argumentiert: "Die Bush-Doktrin besagt, dass Länder, die versuchen, biologische oder chemische Waffen zu beschaffen oder einzusetzen, Ziel eines präventiven, atomaren Erstschlages der USA sein könnten."

Nordkorea, Irak, Iran, Syrien und Libyen waren die Staaten, die die Bush-Administration damals explizit nannte. Jayantha Dhanapala, damals der stellvertretende UN-Generalsekretär für Abrüstung, warnte deshalb letztes Jahr in der ARD-Sendung Monitor, es könnten "auf diese Weise weitere Staaten ermutigt werden, sich auf geheimen Wegen (...) Atomwaffen zu beschaffen." Dhanapala verwies auf die Gefahr, dass das seit Nagasaki geltende Tabu hinsichtlich des Einsatzes von Nuklearwaffen gebrochen werden könnte.

Man darf gespannt sein, wie sich diese Veränderungen auf die Doktrin der US-Streitkräfte für den Einsatz nuklearer Waffen auswirken wird. Diese soll im April 2004 fertiggestellt werden.

Keith B. Paine und der Colin S. Gray, der andere intellektuelle Vater des Konzeptes der "Abschreckung im Zweiten Nuklearzeitalter" sind schon wieder einen Schritt weiter: In einem Sonderheft der Zeitschrift "Comparative Strategy" diskutieren sie bereits die nächsten Schritte zur "Reform der Abschreckung". Colin S. Gray kommt dabei zu der Schlußfolgerung, "dass präventives Handeln immer häufiger und ernsthafter als in der Vergangenheit in Erwägung gezogen werden muß. Wenn, wie wir glauben, die Aufgabe des Abschreckens immer schwieriger wird, dann können sich die politischen Wahlmöglichkeiten auf die Optionen gewaltsame Prävention oder Versuch der "aktiven Verteidigung" (in ihren vielfältigen Varianten) reduzieren. Präventives militärisches Handeln wirft eine Reihe von politischen, rechtlichen und ethischen Fragen auf, die, wenn vernünftigerweise möglich, lieber vermieden werden sollten. Aber in einer Welt, in der mehr und mehr Gemeinwesen über Massenvernichtungswaffen und die entsprechenden Trägersysteme verfügen, in der "Katastrophenterroristen" sichere Zuflucht finden können und in der Abschreckung häufig nicht praktizierbar ist, werden unsere politischen Möglichkeiten zu wählen nicht berauschend sein. (.....) Es bleibt bei der Tatsache, dass Abschreckung nur ein Element unserer Strategie sein kann. Aus alleroffensichtlichsten Gründen implizierte das Paradigma der Abschreckung im Kalten Krieg die krasse Alternative zwischen Abschreckung und grenzenloser Katastrophe. Diese sind nicht mehr die Alternativen.

Jetzt, da das Paradigma der Abschreckung aus dem Kalten Krieg einer heftigen grundsätzlichen Kritik ausgesetzt wird, ist es notwendig zu überlegen wie die Reformbemühungen vorangetrieben werden sollten. Zwei Handlungsnotwendigkeiten drängen sich diesem Kommentator auf. Einerseits besteht Bedarf an jenem Lokal- und Regionalwissen, das von der allgemeinen Theorie als irrelevant eingestuft wird. Andererseits muß die U.S-Verteidigungscommunity die Beziehung zwischen Abschreckung und Verteidigung (hier verstanden als offensive und defensive Gegenmaßnahmen [counterforce]) neu überdenken. Eine starke und überzeugende militärische Prävention oder "Prä-emption" könnte strategisch klug und sollte in einigen Fällen auch militärisch umsetzbar sein. Allerdings werden die politischen Komplikationen höchstwahrscheinlich entmutigend sein. Eine Politik des "Schießens bei starkem Verdacht" (d.h. als präventive Maßnahme) kann vernünftig sein in einer Welt mit "Katastrophenterroristen" und Massenvernichtungswaffen. Aber sie ist als allgemeine Richtlinie für den Weltpolizisten nicht wirklich nachhaltig durchhaltbar – weder international noch innenpolitisch. Diese zentrale Angelegenheit bedarf der sorgfältigsten Überlegungen was Mittel, Methoden und Ziele angeht."

 

3. Vorläufer unter Bill Clinton

Der Hinweis auf diese gefährliche Entwicklungen wäre unvollständig, würden die Vorarbeiten dafür unter George Bush Senior und William Clinton verschwiegen. Die Zielplanung für die Nuklearwaffen der USA war gegen Ende der achtziger Jahre vor allem auf die zerfallende Sowjetunion und auf einige Ziele in der Volksrepublik China ausgerichtet. Mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion und der Reduzierung der Nuklearpotenziale beider Seiten in der Folge hat sich dies gründlich geändert. Eine fixe Zielplanung für Tausende von Zielen, die bereits vor Kriegsbeginn feststeht und im SIOP, der integrierten Nuklearzielplanung, beschreibt, mit welcher Waffe welches Ziel angegriffen werden würde, gibt es in dieser Form nicht mehr.

Anfang der neunziger Jahre begann unter dem Stichwort "adaptive Nuklearplanung" das große Umdenken. Zunächst im Hinblick auf die taktischen oder substrategischen Nuklearwaffen. Zunehmend gerieten Ziele in Staaten, die Washington im Besitz oder bei der Arbeit an Massenvernichtungswaffen wähnte, in den Blickwinkel der atomaren Zielplaner: Libyen, Irak, Syrien, Nordkorea und natürlich verstärkt auch China.

Den regionalen Oberkommandeuren der US-Streitkräfte und auch dem Nato-Oberbefehlshaber wurde aufgetragen, Eventualfallplanungen aufzunehmen. Listen mit den Koordinaten und atomaren Bekämpfungsmöglichkeiten Hunderter, wenn nicht Tausender zusätzlicher Ziele wurden aufgestellt. Ziel war es, die Möglichkeit zu schaffen, binnen kürzester Zeit auch eine nukleare Planung zur Kriegführung gegen diese oder andere Staaten aufstellen zu können. Mit der wachsenden Bedeutung militärischer Optionen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen - der so genannten "Counterproliferation" bekam dieser Ansatz Rückenwind. Seither wurde die adaptive Zielplanung verfeinert.

Schon 1995 werden erstmals "nicht-staatliche Akteure" - gemeint sind zum Beispiel religiöse Extremisten, internationale Terroristen oder auch transnationale Konzerne - in nuklearen Dienstvorschriften der US-Streitkräften als potenzielle Bedrohung genannt, da sie sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen könnten. Bereits ein Jahr später, 1996, sieht eine andere Vorschrift für den Einsatz taktisch-nuklearer Waffen in ihnen potenzielle Ziele für den Einsatz von Atomwaffen.

Immer wieder wurde indirekt - im Sinne einer freiwilligen Zweideutigkeit - auch unter Präsident Clinton darauf verwiesen, dass Washington sich auch die Möglichkeit einer nuklearen Vergeltung als letztes Mittel gegebenenfalls offen halten müsse.

 

4. Von der Intensivstation in die Leichenhalle?

Die neue Nuklearpolitik der Bush-Administration legt die Axt an die Wurzel der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung. Die Aussicht, dass für neue Atomwaffen auch neue Nuklearwaffentests erforderlich sein könnten, die Verkürzung der notwendigen Vorbereitungszeit für solche Tests, die Aufkündigung des ABM-Vertrages und die direkte Missachtung der Negativen Sicherheitsgarantien Washingtons durch die nukleare Drohung gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen in der Präsidenten-Direktive NSDP 17 - all das sind schwere Schläge für Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Schon allein die Absicht des Einstiegs in die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Waffen signalisiert vielen nicht-nuklearen Mitgliedern des NPT, dass unter dieser Administration nicht mit substanziellen Fortschritten in der atomaren Rüstungskontrolle zu rechnen ist, dass die Verpflichtung auf das Ziel der Abschaffung aller Atomwaffen, die im Artikel VI des Vertrages verankert ist, zu Lebzeiten dieser Administration keine Chance hat.

Besorgt sehen viele Staaten, dass die Politik der Bush-Administration befördern könnte, was sie zu verhindern vorgibt - die Weiterverbreitung nuklearer Waffen. So hat z.B. Saudi Arabien nach dem Irak-Krieg angekündigt, seine nuklearen Optionen prüfen zu wollen. Noch mehr besorgt viele, dass dies in ihrer Nachbarschaft geschehen könnte. "Die nukleare Rüstungskontrolle liegt bereits auf der Intensivstation", meinte Daniel T. Plesch, vom Royal United Services Institute in London bereits im vergangenen Jahr. "Die Entwicklung neuer Atomwaffen und erneute Atomtests würden die atomare Abrüstung in die Leichenhalle verlegen."

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).