Friedensforum 1/99

 

Ziellose Erweiterung

Ulf Terlinden

Der Zeitplan der NATO sieht für die Zeit nach der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns, die in den nächsten Wochen bevorsteht, eine Auswertung dieser ersten Erweiterungsrunde vor. Auf deren Grundlage soll über die zukünftigen Schritte der Erweiterung entschieden werden. Wie diese aussehen werden, ist noch nicht absehbar, aber es spricht vieles dafür, dass die Allianz sich eine offizielle Denkpause verordnen sollte. Denn nicht nur eine neuerliche Erweiterung, sondern schon die Fortschreibung ihrer Politik der "offenen Tür" belastet das angeschlagene Verhältnis zu Russland, unabhängig davon, ob von ihr Gebrauch gemacht wird.

Die NATO ist in Sachen Erweiterung, ebenso wie in vielen anderen Fragen, die das Ende der alten Ost-West-Konfrontation mit sich brachte, tief gespalten. Diesseits wie jenseits des Atlantik ist der politische Diskurs von der Frage nach der zukünftigen "europäischen Sicherheitsarchitektur" geprägt. Welche Rolle soll die NATO darin spielen, und wie wird Russland in diese Struktur eingebunden?

In der Diskussion grob zu unterscheiden sind zwei Lager: Das eine will die NATO vor allem als System kollektiver territorialer Verteidigung (potentiell auch gegen Russland) erhalten und unter dieser Maßgabe ausbauen; das andere Lager strebt einen sukzessiven Umbau der Allianz zu einem Instrument weltweiter Interessensdurchsetzung an, der neben der kollektiven Territorialverteidigung auch den Sicherheitsinteressen Russlands durch zusätzliche Elemente kooperativer oder kollektiver Sicherheit Rechnung tragen kann, oder bei Bedarf auch in Konfrontation zu Russland gehen kann.

Die erste Erweiterungsrunde wurde möglich, weil eine Koalition aus beiden Lagern innerhalb der USA und unter ihrer Führung auch in der NATO zustande kam, für die Polen, Ungarn und die Tschechische Republik den kleinsten gemeinsamen Nenner bildete: Für die Vertreter des ersten Lagers waren die Beitritte Teil einer notwendigen Re-Legitimierung der NATO. Drei der Staaten, die in das Bündnis aufgenommen werden wollen, liegen nun nicht mehr zwischen der Ostgrenze der NATO und Russland, sondern nehmen Teil an der "kollektiven Verteidigung". Die NATO gewinnt an Bündnisgebiet und damit an Gewicht in Europa. Zugleich bedeutet die Aufnahme dieser neuen Mitgliedsstaaten ein überschaubares Risiko für die NATO und eine Vergrößerung um nur drei Kandidaten ließ sich in den Parlamenten der NATO-Mitgliedsstaaten politisch leicht durchsetzen.

Das zweite Lager betrachtet die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik als einen Baustein des Wandels. Sie muss mit verstärkter Kooperation mit Russland verbunden sein. Zugleich muss die NATO durch eine politische Reform reif für Aufgaben kollektiver und kooperativer Sicherheit gemacht werden, also bei "Peacekeeping", "Peace-Enforcement" und Out-of-area-Interventionen federführend sein.

Vieles spricht derzeit gegen einen raschen neuerlichen Schulterschluss der beiden Lager. Ein politisches Endziel der NATO-Erweiterung ist nicht bekannt. Ein einfacher Minimalkonsens über den nächsten Schritt, wie er bei der ersten Runde zustande kam, ist jetzt nicht mehr möglich, denn wie im Folgenden zu sehen sein wird, hätte fast jeder nächste Schritt Konsequenzen, die ein Teil der Befürworter der ersten Runde ablehnt.

Dissens und Konzeptlosigkeit

Deshalb muss die pauschale Politik der "offenen Tür", die Russland in fortwährender Unsicherheit über die zukünftige politische Entwicklung in seiner direkten Nachbarschaft hält, als ein Ausdruck des transatlantischen Dissenses und der Konzeptlosigkeit angesehen werden.

Bisher konnten die zwei genannten Lager im Rahmen der Erweiterungsdiskussion relativ ungestört koexistieren. Nahezu alle möglichen Optionen einer neuen Erweiterungsrunde stellen die NATO nun jedoch vor eine Reihe von "Gretchenfragen":

Seit langem drängen Norwegen und Dänemark darauf, dass die drei baltischen Staaten in die NATO aufgenommen werden. Wegen der fehlenden "strategischen Tiefe" und der Lage des Baltikums zwischen Russland, Weißrussland und der Ostsee gibt es aber Vorbehalte, die territoriale Verteidigungsgarantie des Bündnisses in diese Richtung auszudehnen. Das Baltikum sei militärisch nicht glaubwürdig zu verteidigen, so das Argument. Die USA haben versucht, die Balten (auch jene, die als Immigranten in den USA leben und wählen) durch die Unterzeichnung einer bilateralen Charta mit den drei Aspiranten zu beruhigen. Die USA
stellen den baltischen Staaten einen Beitritt in Aussicht, ohne einen Zeitpunkt zu nennen. Zugleich haben die Amerikaner ihre Hoffnung geäußert, dass Estland, Lettland und Litauen mit der Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt getröstet werden könnten - ein Schritt, von dem die USA politisch profitieren würden, ohne einen Cent zu bezahlen.

Entscheidend ist aber, dass Russland ernste Konsequenzen für den Fall angekündigt hat, dass die baltischen Staaten in die NATO aufgenommen würden. Durch ihre frühere Zugehörigkeit zur Sowjetunion liegen die drei Ostsee-Anrainer im russischen   "Tabu-Bereich" einer möglichen NATO-Erweiterung. Eine solche Konfrontation kann weder im Interesse der Vertreter kollektiver Sicherheit, noch im Interesse des anderen NATO-Lagers sein. Denn wer kollektive Verteidigung in der NATO organisieren will, muss ihre Handlungsfähigkeit erhalten.


Pulverfass Balkan

An der Süd-Ostflanke der NATO heißen die Kandidaten Slowenien, Rumänien, Bulgarien, Mazedonien und Moldawien, sowie später vielleicht Albanien. Alle liegen auf dem Balkan, der weithin als gefährliches Pulverfass wahrgenommen wird.

Während Italien gerne seinen Nachbarn Slowenien in der NATO vertreten sehen möchte, befürworten die Franzosen einen Beitritt Rumäniens. Klar ist aber, dass mit der Aufnahme von Aspiranten aus dieser Sechsergruppe eindeutig eine verstärkte Verwicklung der NATO in die bestehenden und zukünftigen Konflikte der Region verknüpft wäre. Die NATO würde sich damit auf die Stabilisierung des Balkans als eine ihrer wichtigen Aufgaben einlassen.

Mit diesem Vorgehen wären zwar eindeutige Vorteile verbunden - Schaffung einer klaren Außengrenze der NATO, Landanschluss Ungarns, "Eindämmung" der Jugoslawienkonflikte - doch fraglich ist, ob die NATO-Staaten dort substantielle militärische Kräfte auf Jahre binden wollen. Eine Süd-Ost-Erweiterung brächte möglicherweise nur hohe Kosten und magere militärpolitische Vorteile mit sich. Die NATO wäre fest in der Region gebunden und vor allem die USA verlören ein Stück Flexibilität, für den Fall, dass ihnen gerade mal wieder jemand an einem anderen Ort der Welt auf der Nase herumtanzt. Auch würde eine Erweiterung der NATO auf bis zu 24 Mitglieder vielleicht ihre Handlungsfähigkeit einschränken, da alle Entscheidungen im Bündnis konsensual getroffen werden müssen.

Zudem gibt es Bedenken wegen der russischen Reaktion auf eine so großangelegte Erweiterung. Die Kooperationsbereitschaft Moskaus, die für eine Stabilisierung des Balkans nützlich wäre, könnte gefährdet sein, da mit Applaus aus der russischen Hauptstadt nicht gerechnet werden kann, wenn die NATO sich um alle Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes (außer den Nachfolgestaaten der Sowjetunion) erweitert.

Eine Süd-Ost-Erweiterung der NATO ist möglich, aber sie wäre mit erheblichen Verpflichtungen und Folgen verbunden, die die verschiedenen Lager nur widerstrebend in Kauf nehmen würden.

Als konsensfähiger Schritt wäre die Aufnahme Sloweniens oder eventuell auch der Slowakei denkbar, die beide eine Landverbindung zwischen Ungarn und der NATO schaffen würden. Denkbar wäre auch ein Beitritt der heute noch neutralen Staaten Schweden, Österreich und Finnland. Sie wären fast allen NATO-Mitgliedern willkommen. Zugleich brächte eine solche Erweiterung die Allianz aber auch in einen Erklärungsnotstand: Es wäre noch schwerer, den anderen Aspiranten aus dem früheren Warschauer Pakt die Mitgliedschaft zu verweigern.

Ein mehr oder weniger verdecktes Beitrittsinteresse gibt es auch in der Ukraine. Bisher scheint es aber utopisch, dass ihr ein Beitrittsangebot in der nahen Zukunft gemacht wird. Die Möglichkeit, auch Russland bei Interesse den Beitritt zur Allianz zu
ermöglichen, wird von fast allen NATO-Staaten für die absehbare Zukunft ausgeschlossen.


NATO-Russland-Verhältnis

NATO-extern sind vor allem die Beziehungen zu Russland für den Erweiterungskurs der Allianz relevant. Letztlich waren daher alle bisherigen institutionellen Neuerungen von dem halbherzigen Bemühen geprägt, die Enttäuschung Russlands über die Osterweiterung vorläufig aufzufangen bzw. abzumildern.

Dies zeigte besonders der "Ständige Gemeinsame Rat" zwischen der NATO und Russland sehr deutlich. Anfangs wurde das Gremium optimistisch als möglicher Brückenkopf zum Aufbau von Mechanismen kooperativer Sicherheit angesehen, weil sein Gründungsdokument Konsultationen und Kooperation zu fast allen Aspekten der europäischen Sicherheit zulässt und nur den
engeren Bereich der kollektiven Verteidigung der NATO ausschließt. Diese Möglichkeiten sind bisher nur teilweise genutzt worden, weil der Westen nicht den erforderlichen politischen Willen aufbrachte, um Russland ernsthaft an Diskurs und Gestaltung europäischer Sicherheitsarchitektur teilhaben zu lassen. Russland fehlte der Mut zu einem offenen sicherheitspolitischen Dialog, der ggf. auch die Preisgabe militärischer Geheimnisse erfordern kann, wenn dies vertrauensbildend wirkt.

Während der Rat seine Arbeit aufnahm, begann die NATO ihre Beitrittsverhandlungen mit den ersten drei Beitrittskandidaten. Auf russischer Seite scheint dieser Schritt mittlerweile als unvermeidbar hingenommen worden zu sein. Gleichzeitig hofft man jedoch, die NATO könnte nun von weiteren Erweiterungsrunden absehen. Diese Bereitschaft zeigt die Allianz bisher jedoch nicht.

Russland werden im Streit um die künftige Ausdehnung der NATO nur kleine Zugeständnisse gemacht. Als europäisches Land anerkannt und in gemeinsame Sicherheitsstrukturen eingebunden wird die russische Föderation dagegen nicht. Die Vertreter der kollektiven Verteidigung versuchen Sicherheitspolitik in Europa ohne oder im Zweifel gegen Russland zu machen - eine Politik, deren Ziele leicht zu erreichen und deren Ergebnisse schwer umkehrbar sind. Die Vertreter der kooperativen Sicherheit wollen Russland zunächst bei zweitrangigen Themen einbinden, solange dies anderen "Modernisierungszielen" der NATO nicht im Wege steht.

Die "Politik der offenen Tür" verfolgt die NATO derweil weiter. Sie ist für die nötige Vertrauensbildung kontraproduktiv, selbst wenn sie eine zeitlang keine tatsächlichen Beitritte nach sich ziehen sollte. Langfristig droht sie auf diese Weise den Ansätzen
kooperativer Sicherheit den Boden zu entziehen.

Stattdessen sollte der "Ständige Gemeinsame Rat" genutzt werden, um ein gemeinsames Verständnis der NATO und Russlands über die beiderseitigen Beziehungen und die NATO-Osterweiterung zu erreichen. Dabei muss die NATO Russland entweder eine ernsthafte Beitrittsperspektive eröffnen, oder von neuen Schritten der Osterweiterung absehen, um der Entwicklung des NATO-Russland-Verhältnisses klaren Vorrang zu geben. Nur so wäre zu vermeiden, dass auf Jahrzehnte die Diskussion um künftige NATO-Erweiterungen das NATO-Russland-Verhältnis vergiftet oder gar in erneute Konfrontation umkippen lässt.



Ulf Terlinden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BITS und studiert Politik an der FU Berlin.