Nr. 2/99
Rundbrief des Bund für Soziale Verteidigung

 

Die Kosovo-Falle

 von Otfried Nassauer

Es scheint, als bombe die NATO den serbischen Staat zurück in die Steinzeit. Doch Slobodan Milosevic zeigt sich immer wieder ungerührt, lehnt politisches Einlenken ab und vergrößert das Leid und Elend der Menschen aus dem Kosovo. Kann es sein, daß die NATO ihre politischen Ziele mit militärischen Mitteln verfehlt, daß Goliath politisch von Davids Schleuder getroffen wird, weil Goliath die falsche Strategie verfolgt?

Der Konflikt um den Kosovo dient Militärs und Politikern der NATO seit langem als Musterbeispiel für die künftigen Aufgaben und die künftige Strategie des Bündnisses. Diese ist nun seit dem Washingtoner Gipfel verabschiedet. Der Krieg auf dem Balkan diente auch als Beleg dafür, daß die Allianz gegebenenfalls ohne Mandat der Vereinten Nationen zum militärischen Eingreifen bereit sein muß. Nunmehr ist dies offizieller Bestandteil der NATO-Strategie. "Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trägt die vorrangige Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit und von daher spielt er auch eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, zu Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum beizutragen", sagt das neue strategische Konzept. Die "vorrangige" Verantwortung läßt eine letzte Verantwortung der NATO zu; "eine entscheidende Rolle" ist nicht "die" entscheidende Rolle. Die NATO hat sich die Option auf Vorrang vor den Vereinten Nationen gesichert. In der neuen Strategie zeigt sich die NATO bereit, für die Menschenrechte und gegen Völkermord zu kämpfen. Deshalb reklamiert sie das Recht, außerhalb des NATO-Gebietes zu intervenieren. Nicht als Weltpolizist, wie viele meinten, sondern vorrangig im "euro-atlantischen Raum", jenem Gebiet, das den Sicherheitsraum aller 44 Staaten der Partnerschaft für den Frieden umfaßt. Ein Agieren darüber hinaus wird aber nicht ausgeschlossen. Bedrohungen, z.B. durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Staaten im Mittleren Osten, in Nordafrika oder gar im Besitz nichtstaatlicher Akteure lassen - so die Allianz - eine Begrenzung des Aktionsradius nicht zu.

Das neue strategische Konzept erweist sich allerdings schon bei der Generalprobe im Kosovo als gefährlich und tückisch. Das Orchester spielte nicht aus derselben Partitur. Es ist kein Ausdruck der Harmonie, daß die Musiker nach fünfwöchigen Proben noch nicht schreiend auseinandergelaufen sind.

Ganz offensichtlich stimmt beim Vorgehen der NATO etwas nicht: Politische Ziele und militärische Mittel stehen nicht im Einklang. Die NATO hat politische Forderungen gestellt und eine militärische Drohung ausgesprochen, mit der sie ihre Forderungen nicht gesichert erzwingen kann. Beide Seiten folgen deshalb einer Eskalationslogik, die alle politisch-diplomatischen Lösungen bislang vereitelt hat, da sie Sieg und Niederlage zuweist und für den Verlierer der Gesichtsverlust droht. Der Ausbruch aus dieser Logik ist bislang nicht gelungen. Würde er in letzter Minute und unter russischer Vermittlung doch noch gefunden - am Zustandsbefund für NATO und am Urteil über das neue Strategisches Konzept würde dies nichts ändern. Die neue Strategie der NATO steht zur Disposition. Es gibt bereits heute erneuten Diskussionsbedarf.

Eine ernsthafte Strategie-Diskussion in der NATO - unter Einschluß der Interessensdivergenzen zwischen den NATO-Mitgliedern - wird erst nach dem Ende der Militäroperation im ehemaligen Jugoslawien erfolgen. Im Grundsatz machen das auch bereits einige andere Beschlüsse der NATO vor und während des Gipfels deutlich:

  • der neuen NATO-Strategie und dem Kommunique des Washingtoner Gipfels liegen zwei sehr unterschiedliche Konzepte für die Stärkung des europäischen Beitrags zur militärischen Sicherheit und Stabilität zugrunde. Die Strategie reflektiert die Entwicklung der letzten Jahre - europäisches Handeln im Rahmen der WEU unter Billigung und Mithilfe der NATO. Das Kommunique reflektiert dagegen die Entwicklung der letzten Monate: Europa handelt militärisch als Europäische Union mit oder ohne die Billigung und Mithilfe der NATO;

  • bis zu den Herbsttagungen der NATO soll die Nuklearpolitik der NATO einer Überprüfung unterzogen werden. Manche betonen, dabei gehe es vorrangig um die rüstungskontrollpolitischen Aspekte; andere sehen die Nuklearstrategie auf dem Prüfstand; das Ergebnis hat in beiden Fällen Auswirkungen auf das strategische Konzept des Bündnisses;

  • mit territorialen Sicherheitsgarantien für die Nachbarn des ehemaligen Jugoslawiens für die Zeit des Krieges ist die NATO vorgeprescht. Sie wird von diesen Zusagen kaum zurücktreten können und hat damit den künftigen NATO-Beitritt dieser Staaten und eine deutlich veränderte Aufgabenstellung für die NATO präjudiziert. In der neuen NATO-Strategie ist dies in keiner Weise vorbedacht;

  • schließlich das Verhältnis zu Rußland: Die neue NATO-Strategie schreibt die Lage vor dem Krieg auf dem Balkan fort. Erfolg oder Mißerfolg der russischen Vermittlung sowie der Ausgang des Krieges haben aber unmittelbaren und gravierenden Einfluß auf die Beziehungen zwischen NATO und Rußland. Kooperation oder erneute Konfrontation - so lautet die Alternative.

Die Beschlüsse von Washington sind Vergangenheit. Sie sind keine Vision. Und würden sie als solche verstanden - so wäre es schlecht bestellt um die NATO.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).