Berlin, September 1998
antimilitarismus information (ami) 

 

Der Stoff, aus dem die Bomben sind
Abrüstungskonferenz beschließt Verhandlungen über Kernwaffenmaterialien

Oliver Meier

Am 11. August 1998 beschlossen die 61 Mitgliedsstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) die Aufnahme von Verhandlungen über ein "Verbot der Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen und andere Kernsprengkörper" (Treaty Banning the Production of Fissile Material for Nuclear Weapons or other Explosive Devices, Fissile Material Cut-off, FMCT).[1]  Hinter diesem Titel verbirgt sich ein längst überfälliger Vertrag, der seit den fünfziger Jahren auf der Tagesordnung der nuklearen Rüstungskontrolle steht.  Bedeutend ist der Beschluß  trotzdem:  Ein solches "Cut-off"-Abkommen stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt dar.  Die Verhandlungen sind außerdem wichtig, weil mit ihnen die Pattsituation in der nuklearen Rüstungskontrolle überwunden wird und außerdem die drei de facto-Atomwaffenstaaten Indien, Israel und Pakistan in den Rüstungskontrollprozeß eingebunden werden.  Schließlich wird ein FMCT die Transparenz in der nuklearen Rüstung erhöhen, denn alle Staaten werden ihre Bestände an spaltbaren Materialien für Kernwaffen offenlegen müssen.

 Worum geht es?

Ziel eines Cut-off-Vertrages ist es, die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffen weltweit zu verbieten.  Allgemein werden darunter hochangereichertes Uran (HEU) und Plutonium verstanden.  Ohne diese beiden Stoffe funktioniert keine Kernwaffe, wenn es daher gelingt, ihre Produktion zu verbieten, so wäre das unumkehrbare Ende des quantitativen nuklearen Rüstungswettlaufs erreicht:  Wenn kein HEU und Plutonium hergestellt werden darf, dann ist eine Aufrüstung nur noch mit den in Reserve gehaltenen Materialien möglich.[2]

Bis heute stehen die Produktionskomplexe der Kernwaffenstaaten außerhalb der Kontrolle der Internationalen Atomergieorganisation (IAEO).  Sowohl die fünf im nuklearen Nichtverbreitungs-Vertrag (NPT) genannten Kernwaffenstaaten China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die Vereinigten Staaten als auch die drei Kernwaffenstaaten, die diesem Vertrag bisher ferngeblieben sind (Indien, Israel, Pakistan) müssen ihre Atomanlagen nicht internationalen Kontrollen unterwerfen, wie dies alle anderen Staaten tun müssen.(Vgl. ami 12/94, Y-157)[3]

Ein FMCT soll diese Lücke zumindest teilweise schließen:  Das Produktionsverbot wird – da es international überprüft werden muß – einen Teil der militärischen und möglicherweise zivilen Atomanlagen in den Kernwaffenstaaten unter internationale Kontrolle stellen.  Damit wäre eine der Ungerechtigkeiten des NPT beseitigt, denn alle Staaten müßten dann ihre Atomkomplexe kontrollieren lassen.  Wahrscheinlich wird die Kontrolle eines Cut-off der IAEO übertragen, die schon jetzt die Einhaltung der NPT-Vertragsbestimmungen in den Nichtatommächten kontrolliert.

Alle Kernwaffenstaaten besitzen zum Teil erhebliche Vorräte an Kernwaffenmaterialien.  Deshalb haben die fünf im NPT genannten Atommächten mittlerweile erklärt, keine spaltbaren Stoffe für Kernwaffen mehr herzustellen.[4]  Die USA und Rußland verfügen über so große Bestände an HEU und Plutonium, daß die sichere Entsorgung sie vor große Probleme stellt.  Die hochradioaktiven Stoffe stellen nicht nur Probleme für die Umwelt dar, es besteht gerade in Rußland die Angst vor einem Diebstahl dieser Materialien.  Auch die kleineren Atommächte besitzen zum Teil erhebliche Vorräte.

Nationale Bestände der acht Kernwaffenstaaten an HEU und Plutonium in metrischen Tonnen[5]

HEU

Plutonium

China

20

3,5

Großbritannien

21,6

7,6

Frankreich

25

4,8

Indien

--

0,37

Israel

--

0,44

Pakistan

0,4

--

Rußland

1.025

160

USA

640

100

Während es international einen weitgehenden Konsens gibt, daß ein FMCT die weitere Produktion dieser Materialien in den Kernwaffenstaaten überprüfbar verbieten soll, ist es heftig umstritten, ob auch die vorhandenen Bestände an kernwaffenfähigen Materialien durch das Abkommen erfaßt werden sollen.  Alle Kernwaffenstaaten sträuben sich heftig gegen eine vollständige Erfassung ihrer Vorräte.  Sie wollen selbst entscheiden, welchen Anteil ihrer Bestände sie als Überschuß deklarieren (und damit unter internationale Kontrolle der IAEO stellen) und wieviel sie als Reserve behalten, um nach Bedarf wieder aufrüsten zu können.  Viele Nichtatommächte hingegen glauben, daß ein FMCT ein echter Abrüstungsvertrag werden sollte und daher alle spaltbaren Materialien – Überschuß oder Reserve – der nationalen Verfügungsgewalt entzogen werden müssen.

Ein weiteres mögliches großes Schlupfloch in einem FMCT stellt die Produktion von waffenfähigen Materialien zu zivilen Zwecken dar.  Plutonium wird noch in einigen Staaten (u.a. in Japan, Frankreich, Rußland) zur Energiegewinnung benutzt, HEU wird unter anderem in Antriebsreaktoren von Atom-U-Booten sowie zur Forschung verwendet.  Voraussichtlich wird die Verwendung von kernwaffenfähigen Stoffen in zivilen Programmen – soweit  sie unter IAEO-Safeguards erfolgt – erlaubt bleiben.  Dies hat mindestens zwei negative Folgen:  Solange einige Staaten über große Mengen "ziviler" spaltbarer Stoffe verfügen, die zum Bau von Kernwaffen geeignet sind, werden die Kernwaffenstaaten kaum bereit sein, sehr tiefe Einschnitte in ihre Arsenale vorzunehmen.[6]  Sie müßten immer befürchten, daß ein Staat wie Japan seine großen Mengen an "zivilem" Plutonium zum Bau von Kernwaffen verwendet.  Zudem besteht ein Problem auf regionaler Ebene:  Israel zum Beispiel wird wahrscheinlich mindestens so lange an seinen Kernwaffen festhalten, wie seine Nachbarn "virtuelle" Atommächte sind weil sie über "zivile" Materialien verfügen, die zum Kernwaffenbau geeignet sind.[7]

Die Einbeziehung der drei Kernwaffenstaaten, die nicht dem NPT angehören (Indien, Israel und Pakistan) in einen FMCT stellt ein weiteres großes Problem dar.  Indien besitzt vergleichsweise größere Mengen an kernwaffenfähigen Materialien als Pakistan.  Es wird angenommen, daß Pakistan etwa 16-20, Indien hingegen bis zu 75 Kernwaffen mit den bisher produzierten Materialien herstellen kann.[8]  Pakistan ist daher bestrebt, mit Indien gleichzuziehen.  Da es unwahrscheinlich ist, daß Indien in naher Zukunft abrüstet, kann dies nach einem Vertragsabschluß nur geschehen, indem Pakistan die Produktion von HEU oder Plutonium erlaubt wird.  Israel hat bisher nicht zugegeben, daß es über Kernwaffen verfügt und möchte am liebsten an diesem ambivalenten Status festhalten.  Internationale Inspektionen seines Plutoniumreaktors in Dimona wird Israel daher zu vermeiden versuchen.[9] 

 Schwierige Verhandlungen

Auf den ersten Vorsitzenden der mit den Verhandlungen beauftragten "Ad hoc Gruppe" der CD, den kanadischen Botschafter Mark Moher, wartet also eine schwierige Aufgabe.  Wenn die substantiellen Verhandlungen im nächsten Jahr aufgenommen werden, müssen wichtige Weichenstellungen getroffen werden.  Aus friedenspolitischer Sicht ist es wichtig, daß ein FMCT möglichst viele waffenfähige Materialien – Überschuß oder Reserve, zivil oder militärisch – erfaßt.  Nur wenn dies gelingt, bringt das Abkommen auch die nukleare Abrüstung voran.  Sollte hingegen lediglich die weitere Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke verboten werden, so würde ein FMCT die bestehenden Ungleichheiten sowohl zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtatommächten als auch zwischen den vorhandenen Atommächten festschreiben.

Ein wichtiges Zeichen zu Beginn der Verhandlungen wäre eine politisch verbindliche Erklärung aller Kernwaffenstaaten und kernwaffenfähigen Staaten, daß sie die Produktion von spaltbaren Materialien für Atomwaffen dauerhaft einstellen.  Sinnvoll wäre es auch, wenn alle Nuklearwaffenstaaten erklären, welchen Anteil ihrer Bestände an kernwaffenfähigen Materialien sie als nationale Reserve zurückzuhalten beabsichtigen.  Dies würde eine gute Basis für die Verhandlungen, die vermutlich mehrere Jahre dauern werden, darstellen.  Gleichzeitig sollten alle Kernwaffenstaaten erklären, daß sie Anzahl ihrer Kernwaffen nicht erhöhen.

Deutschland wird in diesen Verhandlungen eine wichtige Rolle zukommen:  Die Bundesregierung hat sich die Forderung nach mehr Transparenz im nuklearen Sektor seit langem auf ihre Fahnen geschrieben.  Sie kann daher, wie schon in der Vergangenheit zwischen den Interessen der Atommächte und Nichtkernwaffenstaaten vermitteln.  Zunächst muß Deutschland aber seine Hausaufgaben machen und von der Verwendung von waffenfähigem Uran im geplanten Forschungsreaktor in Garching Abstand nehmen sowie die Bestände an Plutonium im Hanauer Staatsbunker offenlegen und der internationalen Kontrolle unterstellen. (Vgl. ami 12/1994, Y-193)  Sollte dies nicht geschehen, wird Deutschland kaum glaubwürdig für einen starken Cut-off-Vertrag eintreten können.

Politisch wichtig ist es, daß der Druck auf die Kernwaffenstaaten, die nukleare Abrüstung voranzutreiben, trotz dieser Verhandlungen nicht nachläßt:  Selbst durch den umfassendsten FMCT der vorstellbar ist, wird es zunächst nicht eine Atomwaffe weniger geben.  Parallel zu den jetzt vereinbarten Verhandlungen muß die nukleare Abrüstung im Rahmen des START-Prozesses zwischen den USA und Rußland und möglichst schnell auch unter Einbeziehung der anderen Kernwaffenstaaten vorangebracht werden.  Denn ein FMCT stellt auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt nur einen kleinen, wenn auch notwendigen, Schritt dar.

Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) in Genf.  Er kann erreicht werden unter Tel./ FAX +41-22-731 0812, email: meier@maxess.ch

 

[1] Das Verhandlungsmandat enthält das Ziel, ein nicht-diskriminierendes, multilaterales, weltweit anwendbares und wirksam verifizierbares Abkommen über das Verbot der Produktion spaltbarer Stoffe für Kernwaffenzwecke abzuschließen. "Draft Decision on the Establishment of an Ad Hoc Committee under Item 1 of the Agenda entitled 'Cessation of the Nuclear Arms Race and Nuclear Disarmament'", Geneva, Conference on Disarmament, 11 August, 1998.

[2] Eine Reihe von unabhängigen Experten fordert außerdem, die Produktion von Tritium, das die Sprengkraft von Atomwaffen erhöht in die Verhandlungen miteinzubeziehen.  Vgl. ami 12/1994, Y-157.

[3] Die einzige Ausnahme stellt Kuba dar, das ebenfalls nicht Mitglied des NPT ist, aber nicht in der Lage sein dürfte, Atomwaffen herzustellen.

[4] Die Ausnahme bildet Rußland, daß gegenwärtig noch drei Reaktoren betreibt, die Plutonium für militärische Zwecke herstellen können.  Diese Reaktoren sollen jedoch im Rahmen eines Abkommens mit den USA bis zum Jahr 2000 so umgebaut werden, daß sie keine kernwaffenfähige Stoffe mehr herstellen. 

[5] Alle Zahlen bis auf Großbritannien, das seine Bestände als einziger Atomwaffenstaat öffentlich gemacht hat, sind Schätzungen mit großen Fehlermargen.  Sie sollen der ungefähren Orientierung dienen.  Zahlen nach Arms Control Reporter 1-1998, 612.A.7; UK Strategic Defence Review, 8 July 1998; David Albright/ Kevin O'Neill: "ISIS Technical Assessment: Pakistan's Stock of Weapon-Grade Uranium", Washington, D.C., June 1, 1998; David Albright: "Fact Sheet:  India and Pakistan – Current and Potential Nuclear Arsenals", Washington, D.C.: ISIS, May 13, 1998.  Die Zahlen für die amerikanischen und russischen Plutoniumbestände wurden im Rahmen einer Pressekonferenz am 1. September 1998 in Moskau vom US-Senator Pete Domenici bekanntgegeben.  Siehe The White House, Office of the Press Secretary, Press Briefing by Press Secretary Mike McCurry, et al., Moscow, September 1, 1998.  Während des Gipfels kündigten die USA und Rußland an, je 50t militärisches Plutonium der IEAO zu unterstellen.
Zum Bau einer Atombombe genügen wenige Kilogramm HEU oder Plutonium.

[6] Das klassische Beispiel ist wiederum das japanische Plutoniumprogramm, das in China oft als "virtuelles" Atomwaffenprogramm wahrgenommen wird.

[7] Dieses Argument macht Paul Leventhal in: "The Plutonium Industry and the Consequences for a Comprehensive Fissile Material Cutoff", Paper presented at the conference "Working Towards a Nuclear Weapons Free World", Oxford, April 28-30, 1997.

[8] David Albright: "Fact Sheet:  India and Pakistan – Current and Potential Nuclear Arsenals", Washington, D.C.:  ISIS, May 13, 1998.

[9] So stellte die israelische nach ihrer Zustimmung zur Aufnahme von Verhandlungen über einen FMCT in der CD klar, daß sie diesen Schritt nur auf Druck der USA hin getan haben, daß Israel darin keine Vorentscheidung über den Inhalt eines Cut-off sieht, dessen Aushandlung Jahre in Anspruch nehmen wird und daß Israel "fundamentale Probleme" mit einem FMCT hat, die es mit den USA diskutieren möchte.  Office of the Prime Minister, Press Release: "PM Netanyahu's Remarks regarding Media Reports concerning Israel's Nuclear Policy", Tel Aviv, August 11, 1998.