Analyse & Kritik
17. April 2003


Kriegsverlauf mit Überraschungen - US-Präventivkriegsstrategie erprobt an einem geschwächten Gegner

von Gerhard Piper

 

Der Krieg zur angeblichen Entwaffnung des Iraks begann mit einer Geheimdienstpanne: In den frühen Nachtstunden des 20. März bombardierte die US-Luftwaffe einen Gebäudekomplex in Bagdad, wo sich nach CIA-Angaben Saddam Hussein aufhalten sollte. Der irakische Diktator überlebte. Die Idee, der Krieg könne mit einem gezielten Schuß beginnen und enden, zerplatzte wie eine Seifenblase.

Dabei hatten die US-Generalstabsoffiziere seit Anfang 2001 an dem Kriegsplan OPLAN 1003 V(ictor) gefeilt, um jede Eventualität zu bedenken. Es sollte ein kurzer Krieg werden, nur ein paar Tage mit einem Minimum an Kräften und Kosten. Schon am zweiten Kriegstag verkündete US-Kriegsminister Donald Rumsfeld, daß bei den irakischen Streitkräften Auflösungserscheinungen erkennbar seien und das Regime von Saddam Hussein vor dem Zusammenbruch stehe. Sein britischer Amtskollege Geoff Hoon sekundierte, bis zum 25. März werde Bagdad fallen. Die Kriegsplaner hatten vorgesehen, daß die US-Truppen die irakischen Städte, die sich wie die Perlen einer Kette entlang der Flüsse Euphrat und Tigris aneinanderreihten, in einer Art "Triumphzug" erobern würden: Umm Qasr, Al Basrah, Nasiriyah, Samawah, Najaf, Karbala, Kut und schließlich Bagdad.

Die Kriegswirklichkeit sah anders aus. Erfolgsmeldungen über eroberte Städte erwiesen sich gleich im Dutzend als plumpe Propagandalügen. Amerikanische Soldaten schossen so oft auf befreundete britische Kameraden, das diese schließlich eine gezielte Absicht dahinter nicht länger ausschließen wollten. Der US-Vormarsch auf Bagdad kam zeitweilig in Sandstürmen und Regenschauern zum Stillstand. Nicht zuletzt leisteten die irakischen Streitkräfte und Milizen erheblichen Widerstand. Diese Pannenserie prägte die öffentliche Wahrnehmung des Kampfgeschehens in den ersten beiden Wochen.

Auch die US-Generäle wurden nervös: Schon die erste Kriegswoche machte die militärischen Schwächen des amerikanischen Angriffs offensichtlich: Zu wenig Truppen, zu wenig Präzisionsbomben, zu lange Transportwege und Defizite im Bereich der Versorgung. Alle diese Probleme waren schon im Mai 2002 bei der Stabsrahmenübung "Prominent Hammer", bei der ein US-Angriff auf den Irak simuliert worden war, aufgetreten. Daraufhin erwirkten die US-Generäle damals bei Präsident George Bush eine Verschiebung des Golfkriegs um mehrere Monate. Um so überraschender ist es, daß der reale Krieg dann wieder so ablief, wie es das Kriegsspiel vorausgesagt hatte.

Die US-Militärs hatten in der Person des Verteidigungsministers schnell den Hauptverantwortlichen ausgemacht. Sechsmal hätten sie Rumsfeld darauf aufmerksam gemacht, daß für einen Vormarsch auf Bagdad ein größeres Kontingent an Bodentruppen notwendig sein, aber "Rummy" hätte sie in seiner bekannten arroganten Art nur abgekanzelt. Eine ganze Palette von aktiven und früheren US-Generälen meldete sich zu Wort, um sich selbst und die Kameraden von jedem Versagen freizusprechen: Wesley Clark, Wayne Downing, Barry McCaffrey, William Wallace, etc.

Aber Zivilbevölkerung und Ex-Generäle irrten beidermaßen. Einzelfälle von "Friendly Fire" und "Kollateralschäden" standen zwar im Mittelpunkt des Interesses der Medien, vom militärischen Standpunkt aus betrachtet hatten sie keine nennenswerten Auswirkungen auf den Kriegsverlauf. Trotz der Verzögerungen beim Vormarsch verlief der Vorstoß der US-Truppen fast plangemäß.

Dafür war die militärische Überlegenheit der US-Streitkräfte ausschlaggebend: 225.000 Soldaten, 850 Kampfpanzer Abrams, 400 Schützenpanzer Bradley, 140 Kampfhubschrauber Apache, 1000 Flugzeuge und 5 Flugzeugträger. Hinzu kamen noch 45.000 Soldaten irgendwelcher Allierten. Diesem Aufmarsch waren die Iraker mit ihrer veralteten Militärtechnik hoffnungslos unterlegen, auch wenn sie mehr Soldaten aufbieten konnten: 350.000 Mann der regulären Streitkräfte, ca. 70.000 Mann der Republikanischen Garde (RG) inklusive vier Spezialbrigaden, mindestens 20.000 Mann der Miliz Saddam Fedayeen, vier Spezialbrigaden der Geheimdienste und schließlich die Präsidentengarde Al Amn al Khas.

Mit dem Irak hatte sich die Bush-Regierung einen geschwächten Gegner zur Erprobung ihrer aggressiven Präventivkriegsstrategie ausgesucht. Dies zeigte sich auch in der Zwischenbilanz der Opferzahlen. Während auf Seiten der irakischen Streitkräfte mit wahrscheinlich 10.000 oder 20.000 gefallenen Soldaten und mit rund 1000 ermordeten Zivilpersonen zu rechnen ist, gab es auf Seiten der Allierten in den ersten drei Kriegswochen "nur" 116 Tote. Mindestens die Hälfte der alliierten Soldaten wurde gar nicht vom Feind erschossen, sondern starb durch Unfälle oder durch Beschuß aus den eigenen Reihen; umgekehrt gelang es den 450.000 irakischen Kämpfern pro Kriegstag gerade mal 3 Feindsoldaten zu töten: Man verteidigte sich unter Lebensgefahr gegen die amerikanische Aggression, aber dies hatte keine Wirkung, weil die US-Soldaten mit ihren Stahlhelmen und ihren Keflar-Schußwesten zu gut geschützt waren.

Außerdem hatte der Irak seine Truppen so disloziert, daß ein Großteil seines Militärs gar nicht eingesetzt werden konnte. In der Nordhälfte des Landes waren 13 Divisionen stationiert, um die Landeshauptstadt herum 6 oder 7 Divisionen und in der Südhälfte des Iraks waren nur 7 Divisionen disloziert. Dort, wo die US-Streitkräfte stark aufmarschiert waren (Kuwait), waren die Iraker schwach, aber dort, wo die Amerikaner schwach waren (Türkei), waren die Iraker mit Masse vertreten. Die Luftwaffe und die Marinestreitkräfte kamen ohnehin nicht zum Einsatz. Schließlich unternahmen die Iraker keinen einzigen Versuch, den Vormarsch der US-Truppen durch Sprengung der Brücken über den Euphrat oder Tigris zu verzögern. Möglicherweise hat die irakische Führung vom ersten Kriegstag die riskante Strategie eines "Broken Back War" verfolgt: Man überläßt dem Feind den Großteil des eigenen Staatsgebietes mit der Landeshauptstadt, um den Feind erst danach in einem Guerillakrieg zu schlagen. Stadt um Stadt konnten so die amerikanischen Einheiten vorstoßen:

Umm Qasr: Die Kleinstadt liegt gleich hinter der irakisch-kuwaitischen Grenze und war das erste Zwischenziel des US-Angriffs. Als einziger Tiefseehafen ist sie von strategischer Bedeutung, da der Nachschubbedarf der US-Truppen auf täglich 60.000 Tonnen (Munition, Treibstoff, Wasser, Lebensmittel) geschätzt wird. Umm Qasr ist zugleich der wichtigste Stützpunkt der irakischen Marine. Da diese nicht mit ihren Schiffen in die Kämpfe eingreifen konnte, wollten die rund 5000 Matrosen wenigsten ihren Stützpunkt erbittert verteidigen. Über eine Woche dauerten die Kämpfe gegen die britischen Marineinfanteristen der 42 Commando Brigade, der amerikanischen Spezialeinheit Seals oder der polnischen Spezialeinheit GROM.

Basrah: Die Stadt (1,3 Mio. Einwohner) liegt rund 60 km nördlich der Grenze. Auf dem Weg dahin meldete das US-Hauptquartier, die 51. Infanteriedivision habe sich mit ihren 8000 Soldaten kampflos ergeben. Später wurde die Nachricht korrigiert: Nicht die ganze Division, sondern nur zwei Soldaten - der Divisionskommandeur und sein Stellvertreter - wären übergelaufen. Schließlich meldete sich der Kommandeur höchstpersönlich zu Wort: Ihm ginge es gut und er kämpfe gegen die Amerikaner. Im Nachhinein stellte sich heraus, die US-Streitkräfte waren auf einen älteren irakischen Offizier hereingefallen, der sich als Kommandeur ausgegeben hatte, um bessere Bedingungen in der Gefangenschaft zu erschleichen. In Basra trafen die britischen Marineinfanteristen auf erbitterten Widerstand der Fedayeen Saddam, zu dieser Guerillamiliz gehört auch die sog. "Goldene Kompanie" aus Selbstmordkommandos. Erst am 7. April konnten die britischen Streitkräfte die Stadt weitgehend einnehmen, daran waren die 4. und 7. Panzerbrigade aus der BRD beteiligt.

Nasiriyah: Die Stadt (530.000 Einwohner) liegt am Euphrat rund 150 km nördlich von Kuwait. In einem Gewaltmarsch durch die menschenleere Wüste konnte eine Vorhut der 3. Brigade der 3. US Infanteriedivision die Stadt schon am 3. Kriegstag erreichen. Die Stadt selbst konnte allerdings nur in tagelangen Kämpfen erobert werden. Dabei mußte die Luftwaffe mit F-18 Hornet und A-10 Thunderbolt Einsätze zur Unterstützung der Bodentruppen fliegen. Hier zeigte sich erstmals, daß die US-Bodentruppen trotz ihrer technischen Überlegenheit schnell in Schwierigkeiten geraten konnten, wenn sie auf Widerstand stießen. Schließlich gelang es den US-Streitkräften die beiden Brücken einzunehmen, so daß die US-Truppen fortan beidseits des Euphrat vorstoßen konnten. Das Kalkül Saddam Husseins, den Amerikanern die Sandhügel in der Wüste zu überlassen, ihnen aber eine Eroberung der Städte so schwer wie möglich zu machen, schien zunächst aufzugehen. Allerdings lagen die Verlustzahlen der irakischen Streitkräfte um ein Vielfaches über denen der USA.

Najaf: An der linken Flanke war die 2. Brigade der 3. US Infanteriedivision innerhalb von drei Tagen rund 375 km weit bis Najaf am Euphrat vorgestoßen. Die Kämpfe zur Besetzung der Stadt dauerten bis Anfang April. Hier kam der US-Vormarsch zunächst zu einem Stillstand. Tagelange Sandstürme erlaubten nur eine Sichtweite von 2 Metern. Trotz offizieller Dementis waren die US-Truppen gezwungen, eine "Kampfpause" einzulegen. Um die Rückschläge der vorausgegangenen Tage im öffentlichen Bewußtsein wettzumachen, kündigte die US-Regierung einen "Strategiewechsel" an, ohne daß klar wurde, worin dieser bestehen sollte.

Karbala: Auf Grund der militärtopographischen Verhältnisse mußten die US-Angreifer bei einem Vorstoß auf Bagdad zwei Engpässe passieren: im Westen das nur 30 km breite Karbala Gap zwischen dem See Razaza und dem Euphrat und im Osten die Tigris Brücken bei der Stadt Kut. Ein Angriff mit 30 Kampfhubschraubern Apache am 24. März, an dem auch US-Soldaten aus dem bayrischen Illesheim beteiligt waren, wurde von der 2. RG-Panzerdivision "Medina" abgewehrt. Ende März belegten die B-52 Bomber den Verband mit einem Teppichbombardement aus Streubomben, so daß schließlich die 3. US-Infanteriedivision vorstoßen und eine Brigade der RG-Division Nebudkadnezar vernichten konnte.

Numaniyah: Am 2. April konnte das 1. Expeditionskorps der Marineinfanterie mit 35.000 Soldaten und 100 Kampfpanzern Abrams eine Tigris-Brücke bei Numaniyah, ca. 45 km westlich von Kut erobern und damit erstmals auch auf der Autobahn Nr. 7 entlang des Ostufers des Tigris vorstoßen. Bei den Kämpfen wurde die 5. RG-Infanteriedivision "Bagdad" und schließlich auch die RG-Division "Nida" aufgerieben.

Bagdad: Am 3. April 2003 begann der Sturmangriff auf Bagdad (5,6 Millionen Einwohner, davon fast 3 Mio. Schiiten). Von Südwesten griff die 3. US-Infanteriedivision mit ihren drei Brigaden an, von Südosten die 1. Marineinfanteriedivision mit drei Regimentern. Zuerst wurde in heftigen Kämpfen der internationale Flughafen am westlichen Stadtrand als strategische Basis erobert. Ein "Häuserkampf" in der Großstadt hätte nach den Erfahrungen aus US-Manövern rund 50 Prozent Verluste in den eigenen Reihen gefordert, um dies zu vermeiden wendeten die US-Einheiten die "Thunder Run"-Taktik an - kurzer Panzervorstoß ins Zentrum der Stadt und sofortiger Rückzug: Am 5. April wagte man einen ersten Angriff, nach einem zweiten Vorstoß am 7. April besetzte man die Palastanlage im Zentrum der Stadt. Einen Tag konnte die US-Einheiten ganze Stadtbezirke nahezu kampflos erobern, das Regime von Saddam Hussein implodierte nach 25 Jahren. Aus Freude über das Ende der Diktatur begrüßte die Stadtbevölkerung die US-Soldaten als "Befreier", obwohl die US-Luftwaffe die Landeshauptstadt nahezu drei Wochen lang u.a. mit Bunker Buster-, Grafit- und E-Bomben bombardiert hatte. Mehrere tausend Bomben mußte die US-Luftwaffe einsetzen. Die im Dezember 1996 von den beiden Pentagon-Bürokraten Harlan K. Ullman und James P. Wade entwickelte Strategie von "Shock und Awe", so ihr Buchtitel, erwies sich in der Praxis als untauglich.

Saddam Hussein hat sich vermutlich in seine Heimatstadt Tikrit 150 km nördlich von Bagdad zurückgezogen. Dort wird es zum "Endkampf" zwischen amerikanische Spezialeinheiten (Special Operations Group, Delta Force) und den beiden verbliebenen RG-Divisionen (Nebukadnezar und Adnan) kommen. Bisher haben die alliierten Streitkräfte keine einzige irakische ABC-Waffe gefunden. Möglicherweise muß die CIA erst welche Verstecken, damit die 75th Exploitation Task Force diese finden kann. Es ist schließlich Osterzeit.

 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS.